Der Verrat
Gegenseite versetzen: Wenn ich er wäre, was würde ich tun? Wie würde ich die Welt betrachten, wie würde ich mich fühlen, mich verhalten? Einfach nur simple, vernünftige Psychologie à la Dale Carnegie. Die Sichtweise des Gegenübers ernst nehmen, solche Sachen eben. Ich-bin-okay-und-du-bistokay. Ich-bin-okay-und-du-bist-bald-tot.
Allerdings ist diese Übung bei jemandem, der dermaßen auf Sicherheit bedacht ist wie Belghazi, schwierig, weil der sicherheitsbewusste Mensch dazu neigt, Muster zu vermeiden und sich nach dem Zufallsprinzip zu verhalten. Wechselnde Zeiten, wechselnde Wege, wenn möglich wechselnde Ziele. Er achtet darauf, keine Gewohnheiten zu entwickeln – Lunch in einem bestimmten Restaurant, Haareschneiden bei einem bestimmten Friseur, Pferdewetten auf einer bestimmten Rennbahn –, auf die sich die Gegenseite einstellen kann.
Doch Belghazis Sicherheitsbewusstsein war nicht vollkommen. Sein Verhalten zeigte das, was Software-Leute einen »Security Flaw« nennen würden, eine Sicherheitslücke – und in seinem Fall war das seine Spielsucht.
Diese Sucht war wahrscheinlich mit dafür verantwortlich gewesen, dass es der CIA und vielleicht auch Karate überhaupt gelungen war, seine Spur bis nach Macau zu verfolgen. Und diese Sucht machte ich mir jetzt zunutze, um in seinen Kopf zu schauen. Wenn du nämlich süchtig bist nach Baccarat mit hohen Einsätzen und dich ein paar Tage in Macau aufhältst, dann gibt es praktisch keine andere Möglichkeit als das Lisboa. Alles andere ist dagegen Kinderkram.
Belghazi wusste das natürlich. Und vielleicht wäre er so klug, seine Chips in einem anderen Kasino zu setzen, das weniger aufregend, weniger glamourös und weniger vorhersehbar war. Aber ich glaubte das nicht. Wenn er eine solche Selbstbeherrschung besäße, wäre er nämlich kein Spieler. Nein, er würde spielen, ganz sicher, und es vor sich selbst rechtfertigen, indem er sich einredete, dass doch kein Grund zur Besorgnis bestand, weil ja niemand wusste, dass er überhaupt in Macau war, und außerdem hatte er ja immer seine Bodyguards dabei, nur für alle Fälle.
Keiko und ich gönnten uns ein macauisches Abendessen – eine exotische Mischung aus portugiesischer, indischer, malaiischer und chinesischer Küche – im »O Porto Interior«, einem bezaubernden, aber etwas abgelegenen Restaurant, das mir reichlich Gelegenheit bot, mich auf dem Weg davon zu überzeugen, dass uns keiner folgte – auch hinterher, als wir in ein Taxi stiegen, um zurück zum Lisboa zu fahren.
Bei meiner Erkundung des Territoriums hatte ich natürlich in alle Kasinos von Macau reingeschnuppert, aber das war nur ein Teil meiner Vorbereitungen für den Belghazi-Auftrag gewesen. Ich musste mich nämlich nicht nur mit dem Glücksspiel in Macau vertraut machen, sondern überhaupt mit dem Glücksspiel, und ich brauchte mehr Kontakt zu den Ticks und Gepflogenheiten dieser Branche, um ein höheres Maß an Unauffälligkeit zu erreichen. Macau war ein Anfang, aber ich wusste, dass es der Figur, die ich spielte – betuchter japanischer Glücksspielliebhaber – entscheidend an Glaubwürdigkeit mangeln würde, wenn die fragliche Figur nie im Leben in Las Vegas gewesen war.
Also war ich für eine Woche nach Las Vegas gereist. Ich hatte mich im Four Seasons am Südende des Strip eingemietet, weil es anscheinend das einzige gute Hotel war, das man erreichen konnte, ohne zuerst ein Kasino durchqueren zu müssen. Und ich wusste, dass ich eine Rückzugsmöglichkeit von dem Qualm und dem Krach und der Hektik brauchen würde. Im schicken Bellagio spielte ich Baccarat, Roulette im Rio, abseits des Strip, Craps im leicht heruntergekommenen Riviera, dessen Bemühungen, es mit dem Trubel und der Glitzerwelt drum herum aufzunehmen, gezwungen wirkten, wie die Make-up-Schichten im Gesicht einer Frau, die genau weiß, dass sie noch nie wirklich schön war und jetzt auch noch farblos und alt geworden ist.
Wenn ich es nicht mehr aushalten konnte, spazierte ich hinaus in die Wüste westlich des Strip, immer weiter und weiter. Der Lärm verklang rasch. Es dauerte länger, bis die Lichter verschwunden waren, und selbst nach etlichen Meilen verschleierten sie noch immer die Sterne am Wüstenhimmel. Doch irgendwann wurde alles in der Ferne belanglos, und ich blieb stehen und blickte zurück auf das, was ich hinter mir gelassen hatte. Wenn ich dann schweigend auf den zeitlosen Sanddünen stand und die friedliche, trockene Luft einatmete, wurde mir klar,
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