Der Verrat
harte Nacht hinter sich, was?«
Ich betrachtete noch einmal mein Foto. »Hätte schlimmer sein können.«
»Was ist das?« fragte sie und zeigte auf ihre Schläfe.
»Ein Zellengenosse wollte meine Schuhe haben. Er hat sie bekommen.«
Sie musterte meine abgetragenen Turnschuhe. »Die da?«
»Ja. Chic, nicht?«
»Wie lange haben die Sie dabehalten?«
»Nur ein paar Stunden. Dann hab ich mein Leben in die Hand genommen und mich resozialisieren lassen. Jetzt bin ich ein neuer Mensch.«
Sie lächelte abermals, ein wunderbares Lächeln. Unsere Blicke trafen sich für einen Moment, und ich dachte: Mein lieber Mann! Kein Trauring. Sie war groß und ein bißchen zu dünn. Ihr Haar war dunkelrot und so kurz geschnitten, dass die Ohren frei blieben. Sie hatte hellbraune, sehr große und runde Augen, in die ich gern für ein, zwei Sekunden hineinsah. Ich fand diese Frau sehr attraktiv und wunderte mich, dass mir das nicht schon früher aufgefallen war.
Hatte sie etwas mit mir vor? War ich mit Hintergedanken hierher geführt worden?
Wie hatten mir diese Augen, dieses Lächeln gestern entgehen können?
Wir tauschten unsere Lebensläufe aus. Ihr Vater war ein Pfarrer der Episkopalkirche in Maryland, ein Redskins-Fan, dem Washington gefiel. Als Teenager hatte sie beschlossen, für die Armen zu arbeiten. Eine höhere Berufung gab es in ihren Augen nicht.
Ich musste gestehen, dass ich bis vor zwei Wochen keinen Gedanken an die Armen verschwendet hatte. Sie war fasziniert von der Mister-Episode und ihrer läuternden Wirkung auf mich.
Sie lud mich ein, zum Mittagessen zu kommen und nach Ruby zu sehen. Wenn die Sonne herauskam, würden wir im Garten essen können.
Armenanwälte sind ganz normale Menschen. Sie können sich an den seltsamsten Orten verlieben, zum Beispiel in einem Heim für obdachlose Frauen.
Nachdem ich eine Woche lang Washingtons übelste Viertel erkundet, viele Stunden in Notunterkünften verbracht und ausgiebig mit Obdachlosen gesprochen hatte, war mein Bedürfnis, mich jedesmal hinter Mordecai zu verstecken, verschwunden. Er war ein guter Schutz, aber wenn ich auf den Straßen überleben wollte, musste ich den Sprung ins kalte Wasser wagen und schwimmen lernen.
Ich hatte eine Liste von etwa dreißig Unterkünften, Suppenküchen und Hilfszentren für Obdachlose. Und ich hatte eine zweite Liste mit den Namen der siebzehn Menschen, die von Drake & Sweeney auf die Straße gesetzt worden waren, darunter auch Devon Hardy und Lontae Burton.
Mein nächster Halt an diesem Samstagmorgen war die Mount Gilead Christian Church in der Nähe der Gallaudet University. Nach meinem Stadtplan war es die Suppenküche, die der Kreuzung New York Avenue und Florida Avenue, wo das Lagerhaus gestanden hatte, am nächsten lag. Die Leiterin war eine junge Frau namens Gloria, die, als ich um neun Uhr dort eintraf, allein in der Küche stand, Sellerie schnitt und sich ärgerte, weil bisher keine Freiwilligen gekommen waren. Nachdem ich mich vorgestellt und sie davon überzeugt hatte, dass meine Referenzen in Ordnung waren, zeigte sie auf ein Schneidebrett und bat mich, Zwiebeln zu hacken. Wie konnte ein Armenanwalt das verweigern?
Ich erklärte, ich hätte das schon einmal getan, und zwar in Dollys Küche, während des letzten Schneesturms. Gloria war höflich, aber in Eile. Ich hackte Zwiebeln, wischte mir die Tränen ab, beschrieb den Fall, an dem ich arbeitete, und rasselte die Namen der Leute herunter, die zusammen mit Devon Hardy und Lontae Burton aus dem Lagerhaus vertrieben worden waren.
»Wir sind keine Sachbearbeiter«, sagte sie. »Wir geben ihnen nur etwas zu essen.
Ich kenne nicht viele Namen.«
Ein freiwilliger Helfer brachte einen Sack Kartoffeln. Ich machte Anstalten, wieder zu gehen. Gloria bedankte sich bei mir, schrieb sich die Namen auf und versprach, sich umzuhören.
Ich hatte einen Plan, und der sah viele weitere Stationen vor. Dabei hatte ich wenig Zeit. Ich sprach mit einem Arzt in der Capitol Clinic, einer privat finanzierten Einrichtung für Obdachlose. Hier hatte man Unterlagen über jeden einzelnen Patienten. Heute war Samstag, und der Arzt versprach mir, seine Sekretärin werde am Montag die Computerdateien nach den Namen auf meiner Liste durchsuchen. Wenn einer dieser Leute ärztliche Hilfe in Anspruch genommen hatte, werde sie mich anrufen.
In der Redeemer Mission von Rhode Island trank ich Tee mit einem katholischen Priester. Er las die Liste aufmerksam durch, kannte aber keinen der Namen.
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