Der Verrat
würde.
ACHTUNDZWANZIG
Samstag Abend, 1. März. Ich war jung, alleinstehend, gewiss nicht so wohlhabend, wie ich es vor nicht allzu langer Zeit gewesen war, aber auch nicht vollkommen pleite. Ich besaß einen Schrank voll guter Kleidung, die ich im Augenblick nicht brauchte. Ich lebte in einer Stadt mit einer Million Einwohnern, darunter zahllose attraktive junge Frauen, die sich zu Macht und Einfluss hingezogen fühlten und, so hieß es jedenfalls, für ein bißchen Vergnügen immer zu haben waren.
Ich trank Bier, aß eine Pizza und sah mir im Fernsehen Basketballspiele an. Ich war allein in meiner Wohnung und nicht unglücklich. Hätte ich mich an diesem Abend in der Öffentlichkeit gezeigt, dann hätte ich wahrscheinlich früher oder später zu hören bekommen: »He, sind Sie nicht der Typ, der verhaftet worden ist?
Ich hab’s heute morgen in der Zeitung gelesen.«
Ich rief Ruby an. Das Telefon läutete achtmal, bevor sie abnahm, und ich war kurz davor, in Panik zu geraten. Ihr ging es prächtig: Sie hatte lange geduscht, ein Pfund Süßigkeiten gegessen und sah ununterbrochen fern. Sie hatte das Zimmer nicht verlassen.
Sie befand sich zwanzig Meilen entfernt in einer kleinen Stadt weitab der Schnellstraße, irgendwo auf dem Land in Virginia, wo weder ich noch sie eine Menschenseele kannten. Dort würde sie keine Drogen auftreiben können. Ich klopfte mir in Gedanken abermals auf die Schulter.
Während der Halbzeit im Spiel Duke gegen Carolina läutete das Handy, das neben der Pizza auf der Plastikbox
lag. Eine freundliche weibliche Stimme sagte: »Hallo, Knacki.«
Es war Claire, und sie sprach ohne bissigen Unterton.
»Hallo«, sagte ich und schaltete den Ton des Fernsehers aus.
»Alles in Ordnung?«
»Alles ganz wunderbar. Und bei dir?«
»Prima. Ich hab dein lächelndes Gesicht heute morgen in der Zeitung gesehen und mir Sorgen um dich gemacht.« Claire las grundsätzlich nur die Sonntagsausgabe; wenn sie die traurige kleine Geschichte gelesen hatte, dann hatte sie ihr jemand gezeigt. Wahrscheinlich derselbe heißblütige Kollege, den ich bei meinem letzten Anruf am Apparat gehabt hatte. War sie Samstags abends etwa ebenso allein wie ich?
»Es war eine neue Erfahrung«, sagte ich und erzählte ihr die ganze Geschichte, angefangen bei Gaskos Besuch im Büro bis zu meiner Freilassung. Sie wollte reden, und während des Gesprächs kam ich zu dem Schluss, dass sie tatsächlich allein war und sich wahrscheinlich langweilte. Möglicherweise fühlte sie sich auch einsam. Und es bestand auch noch die entfernte Möglichkeit, dass sie sich tatsächlich Sorgen um mich machte.
»Wie schwerwiegend sind die Anschuldigungen?« fragte sie.
»Auf schweren Diebstahl stehen bis zu zehn Jahre«, sagte ich ernst. Mir gefiel die Vorstellung, dass sie um mich besorgt war. »Aber darüber zerbreche ich mir nicht den Kopf.«
»Es geht nur um eine Akte, oder?«
»Ja, und es war kein Diebstahl.« Das war es sehr wohl gewesen, doch ich war noch nicht bereit, das zuzugeben.
»Könntest du deine Zulassung verlieren?«
»Ja. Wenn man wegen eines Verbrechens verurteilt wird, verliert man automatisch die Zulassung.«
»Das ist ja schrecklich, Mike. Was würdest du dann tun?«
»Ehrlich gesagt, darüber hab ich mir noch gar keine Gedanken gemacht. So weit wird es nicht kommen.« Ich war tatsächlich ganz ehrlich: Darüber, dass ich meine Zulassung verlieren könnte, hatte ich noch nicht ernsthaft nachgedacht.
Vielleicht sollte ich mich bei Gelegenheit damit befassen - im Augenblick fehlte mir jedoch die Zeit dazu.
Jeder erkundigte sich höflich nach der Familie des anderen, und ich vergaß nicht, sie nach ihrem Bruder James und seiner Hodgkin-Krankheit zu fragen. Die Behandlung hatte bereits begonnen, und die Familie war optimistisch.
Ich dankte ihr für den Anruf, und wir verabredeten, in Verbindung zu bleiben.
Als ich das Handy wieder neben die Pizza gelegt hatte, starrte ich auf den stummen Fernseher und gestand mir widerstrebend ein, dass Claire mir fehlte.
Ruby war frisch geduscht und eingecremt und trug die sauberen Kleider, die Megan ihr gestern gegeben hatte. Ihr Motelzimmer lag im Erdgeschoss, und die Tür ging auf den Parkplatz. Sie erwartete mich, trat hinaus in die Sonne und umarmte mich. »Ich bin clean!« sagte sie mit breitem Lächeln. »Ich bin seit vierundzwanzig Stunden clean!« Wir umarmten uns noch einmal.
Ein Paar in den Sechzigern trat aus der Tür des übernächsten Zimmers und starrte uns
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