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Der Verrat

Der Verrat

Titel: Der Verrat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Grisham
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»Zu uns kommen so viele«, sagte er.
    Der einzige Zwischenfall ereignete sich vor der Freedom Coalition, einer großen Versammlungshalle, die von einer längst vergessenen Vereinigung erbaut, inzwischen aber in ein Nachbarschaftszentrum umgewandelt worden war. Gegen elf Uhr hatte sich vor dem Haupteingang eine lange Schlange gebildet. Da ich nicht vorhatte, dort etwas zu essen, ging ich direkt zur Tür. Einige der Wartenden dachten, ich wollte mich vordrängen und begannen, mich zu beschimpfen. Sie waren hungrig und plötzlich auch wütend, und die Tatsache, dass ich weiß war, machte die Sache nicht besser. Aus mir unerfindlichen Gründen hielten sie mich für einen Obdachlosen. Auch der freiwillige Helfer an der Tür dachte offenbar, ich sei einfach unverschämt. Er stieß mich grob zurück - ein weiterer Akt körperlicher Gewalt gegen meine Person.

    »Ich will doch gar nichts essen!« rief ich. »Ich bin Armenanwalt!«
    Das schien alle zu beruhigen; mit einemmal war ich ein Bruder im Geiste und durfte das Gebäude betreten, ohne weiter beschimpft oder angegriffen zu werden.
    Der Leiter war Reverend Kip, ein hitzköpfiger kleiner Mann mit rotem Barett und schwarzem Kragen. Wir kamen nicht gut miteinander zurecht. Als ihm klar wurde, dass ich a) Anwalt war, b) die Burtons vertrat, c) an einer Klage in ihrem Namen arbeitete und d) möglicherweise ein Schadenersatz ins Haus stand, begann er an Geld zu denken. Ich verschwendete eine halbe Stunde mit ihm und versprach ihm, Mordecai zu ihm zu schicken.
    Anschließend rief ich Megan an und sagte die Verabredung zum Mittagessen ab.
    Ich entschuldigte mich damit, dass ich mich am anderen Ende der Stadt befände und noch eine lange Liste von Leuten hätte, mit denen ich sprechen müsse. In Wirklichkeit wusste ich nicht, ob sie mit mir geflirtet hatte oder nicht. Sie war hübsch und intelligent und ausgesprochen liebenswert - und sie war das letzte, was ich im Augenblick brauchte. Ich hatte seit zehn Jahren nicht mehr geflirtet. Ich kannte die Regeln nicht mehr.
    Aber Megan hatte gute Neuigkeiten: Ruby hatte nicht nur die morgendliche Gruppensitzung durchgestanden, sondern auch hoch und heilig versprochen, in den nächsten vierundzwanzig Stunden keine Drogen zu nehmen. Es war eine anrührende Szene gewesen. Megan hatte hinten im Saal gestanden und konnte es bezeugen.
    »Sie darf heute nicht auf der Straße übernachten«, sagte sie. »Es ist der erste Tag seit zwölf Jahren, an dem sie kein Crack genommen hat.«
    Ich war natürlich keine große Hilfe, aber Megan hatte ein paar gute Ideen.
    Der Nachmittag war so fruchtlos wie der Morgen, auch wenn ich jede einzelne Obdachlosenunterkunft in Washington kennen lernte und Kontakte mit Leuten knüpfte, die ich vermutlich bald wiedersehen würde.
    Kelvin Lam war das einzige Opfer der Zwangsräumung, das wir hatten ausfindig machen können. Devon Hardy und Lontae Burton waren tot. Die übrigen vierzehn waren wie vom Erdboden verschluckt.
    Hartgesottene Obdachlose tauchen von Zeit zu Zeit in einer Unterkunft auf, um eine Mahlzeit, ein Paar Schuhe oder eine Decke zu ergattern, aber sie hinterlassen keine Spuren. Sie wollen keine Hilfe. Sie haben kein Bedürfnis nach zwischenmenschlichen Kontakten. Doch es war schwer zu glauben, dass diese vierzehn Menschen so hartgesotten waren. Noch vor einem Monat hatten sie ein Dach über dem Kopf gehabt und Miete dafür bezahlt.
    Mordecai mahnte mich zur Geduld. Armenanwälte mussten Geduld haben.
    Bei Naomi erwartete mich Ruby an der Tür, mit einem strahlenden Lächeln und einer Umarmung, die mir die Luft nahm. Sie hatte beide Sitzungen überstanden.
    Megan hatte bereits die Parole für die nächsten zwölf Stunden ausgegeben: Ruby durfte unter keinen Umständen auf der Straße sein. Damit war sie einverstanden.
    Sie und ich ließen die Stadt hinter uns und fuhren in westlicher Richtung nach Virginia. In einem Einkaufszentrum außerhalb der Stadt kauften wir eine Zahnbürste, Zahnpasta, Seife, Shampoo und so viele Süßigkeiten, dass sie für eine Schulklasse gereicht hätten. Wir fuhren immer weiter, bis ich in dem kleinen Ort Gainesville ein nagelneues Motel entdeckte, das Einzelzimmer für zweiundvierzig Dollar pro Nacht anbot. Ich zahlte mit meiner Kreditkarte -
    wahrscheinlich würde ich eine Möglichkeit finden, die Rechnung von der Steuer abzusetzen.
    Ich ließ Ruby dort und gab ihr strenge Anweisung, die Tür verschlossen zu halten, bis ich Sonntag morgen nach ihr sehen

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