Der Verrat
an. Weiß der Himmel, was sie dachten.
Wir fuhren zurück in die Stadt, zu Naomi, wo Megan und ihre Mitarbeiterinnen auf Neuigkeiten warteten. Als Ruby ihren Erfolg verkündete, brachen alle in Jubelrufe aus. Megan hatte mir gesagt, die ersten vierundzwanzig Stunden würden immer am lautesten gefeiert.
Es war Sonntag, und ein Pfarrer aus der Nachbarschaft erschien, um eine Bibelstunde abzuhalten. Die Frauen versammelten sich im Gemeinschaftsraum, um zu singen und zu beten. Megan und ich tranken im Garten Kaffee und machten einen Plan für die nächsten vierundzwanzig Stunden. Außer Gebeten und Gottesdienst würde Ruby zwei Gruppensitzungen durchstehen müssen. Unser Optimismus war noch verhalten. Megan war mit allen Aspekten von Sucht vertraut und überzeugt, dass Ruby einen Rückfall haben würde, wenn sie wieder auf der Straße landete. So etwas kam täglich vor.
Das Motel würde ich mir noch ein paar Tage leisten können, und ich war auch bereit, diesen Preis zu bezahlen. Aber ich würde um vier Uhr nach Chicago aufbrechen und mich auf die Suche nach Hector machen, und ich wusste nicht, wie lange ich fort sein würde. Ruby gefiel es im Motel, ja sie schien den Aufenthalt dort regelrecht zu genießen.
Wir beschlossen, nicht weiter als einen Tag im voraus zu planen. Megan würde Ruby zu einem Hotel in einem Außenbezirk fahren, das ich bezahlen würde, und sie Sonntag nacht dort lassen. Am Montag morgen würde sie sie wieder abholen, und dann würden wir uns überlegen, wie es weitergehen sollte.
Megan würde sich auch daranmachen, Ruby zu überzeugen, dass sie von der Straße verschwinden musste. Die erste Station war eine Entzugsklinik, und danach brauchte sie einen Platz in einer Unterkunft für obdachlose Frauen, wo sie ein halbes Jahr lang ein geregeltes Leben führen und auf das Berufsleben vorbereitet werden konnte.
»Vierundzwanzig Stunden sind ein großer Schritt«, sagte sie, »aber vor ihr liegt noch immer ein ganzer Berg.«
Ich verabschiedete mich, so bald ich konnte. Sie lud mich zum Mittagessen ein.
Wir konnten in ihrem Büro essen, nur wir beide, und wichtige Dinge besprechen.
Ihre Augen blitzten und sahen mich herausfordernd an. Also sagte ich zu.
Wer als Anwalt bei Drake & Sweeney arbeitete, flog immer erster Klasse - das war man sich schuldig. Man stieg in Vier-Sterne-Hotels ab und aß in teuren Restaurants, doch Limousinen mit Fahrern galten als zu extravagant; statt dessen mietete man einen Lincoln. Alle Spesen wurden auf die Rechnung des Mandanten gesetzt, und da dieser die besten Rechtsanwälte der Welt bekam, hatte er keinen Grund, sich zu beklagen.
Auf dem Flug nach Chicago saß ich in der Touristenklasse, und da ich außerdem Last Minute gebucht hatte, landete ich auf einem der gefürchteten Mittelplätze.
Auf dem Fensterplatz saß ein dicklicher Mann mit Knien, so groß wie Basketbälle, und am Gang ein verschwitzter, etwa achtzehn Jahre alter Teenager mit pechschwarzem Haar, einem perfekten Irokesenschnitt und einer erstaunlichen Kollektion von Leder und verchromten Stacheln. Ich machte mich möglichst schmal, schloss für zwei Stunden die Augen und versuchte, nicht an die Breitärsche in der ersten Klasse zu denken, wo ich früher einmal gesessen hatte.
Mein Ausflug nach Chicago war ein klarer Verstoß gegen meine Kautionsauflagen: Ohne Genehmigung des Richters durfte ich Washington, D.C., nicht verlassen.
Mordecai und ich waren allerdings zu dem Schluss gekommen, dass es sich um einen weniger schweren Verstoß handelte, der keine weiteren Folgen haben würde, sofern ich wieder nach Washington zurückkehrte.
Ich nahm ein Taxi vom Flughafen zu einem billigen Hotel in der Innenstadt.
Sofia hatte die neue Adresse der Palmas nicht herausfinden können. Wenn es mir nicht gelang, Hector in der Chicagoer Kanzlei von Drake & Sweeney aufzustöbern, saßen wir in der Tinte.
Die Chicagoer Kanzlei von Drake & Sweeney beschäftigte einhundertsechs Anwälte und war damit die drittgrößte nach Washington und New York. Die Immobilienabteilung war überproportional groß und mit achtzehn Anwälten besetzt, mehr als in der Washingtoner Kanzlei. Aus diesem Grund hatte man Hector nach Chicago versetzt: Hier gab es viel Arbeit für ihn. Ich erinnerte mich dunkel daran, am Anfang meiner Karriere bei Drake & Sweeney etwas von der Übernahme einer gutgehenden Chicagoer Immobilienfirma gehört zu haben.
Am Montag morgen um kurz nach sieben traf ich am Associated Life Building ein.
Der Himmel
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