Der Verrat
Sie schlafen in einem Wagen.«
»Tu ich auch. Meistens.«
Wenn man sich mit einer Obdachlosen darüber unterhielt, warum sie hier oder dort schlief, konnte dabei nicht viel herauskommen. Ruby war hungrig. Ich schloss auf, machte Licht und setzte Kaffeewasser auf. Gemäß unserem Ritual ging sie auf dem kürzesten Weg zu dem Schreibtisch, den sie mittlerweile vermutlich als den ihren betrachtete, und wartete.
Wir tranken Kaffee und aßen Kekse, und dazu las ich ihr aus der Zeitung vor -
immer abwechselnd eine Meldung, die mich interessierte, und eine, die sie hören wollte. Den Artikel über mich ließ ich aus.
Ruby hatte gestern Nachmittag bei Naomi die Gruppensitzung verlassen. Die Morgensitzung hatte sie noch durchgestanden, aber am Nachmittag war sie geflohen. Megan, die Direktorin, hatte mich etwa eine Stunde vor Gaskos Erscheinen angerufen.
»Wie geht’s Ihnen heute morgen?« fragte ich Ruby, als wir mit der Zeitung fertig waren.
»Gut. Und Ihnen?«
»Bestens. Ich nehme keine Drogen. Wie steht’s mit Ihnen?«
Ihr Kinn klappte herunter. Sie sah zur Seite und zögerte gerade so lange, dass ich die Wahrheit ahnte. »Ja«, sagte sie. »Ich nehme keine Drogen mehr.«
»Nein, das stimmt nicht. Lügen Sie mich nicht an, Ruby. Ich bin Ihr Freund und Rechtsanwalt und will Ihnen helfen, damit Sie Terrence wiedersehen können. Aber das kann ich nur, wenn Sie mich nicht anlügen. Also, sehen Sie mir in die Augen und sagen Sie mir, ob Sie noch Drogen nehmen oder nicht.«
Irgendwie gelang es ihr, sich noch kleiner zu machen, als sie ohnehin schon war.
Sie sah zu Boden und sagte: »Ja, ich nehme noch Drogen.«
»Danke. Warum haben Sie die Gruppensitzung gestern Nachmittag verlassen?«
»Hab ich doch gar nicht.«
»Die Direktorin sagte, Sie wären gegangen.«
»Ich dachte, sie wären schon fertig.«
Ich wollte mich auf eine Diskussion einlassen, die ich nicht gewinnen konnte.
»Gehen Sie heute zu Naomi?«
»Ja.«
»Gut. Ich werde Sie hinbringen, aber Sie müssen mir versprechen, dass Sie an beiden Sitzungen teilnehmen.«
»Ich verspreche es.«
»Sie werden die erste sein, die kommt, und die letzte, die geht, okay?«
»Okay.«
»Und die Direktorin wird ein Auge auf Sie haben.«
Sie nickte und nahm noch einen Keks, ihren vierten. Wir sprachen über Terrence und Entziehungskuren, und wieder einmal wurde mir bewusst, in welche Hoffnungslosigkeit die Sucht führte. Schon allein die Aufgabe, vierundzwanzig Stunden keine Drogen zu nehmen, stellte für Ruby eine fast unüberwindliche Hürde dar.
Ihre Droge war Crack, wie ich vermutet hatte. Spottbillig und hochgradig suchterzeugend.
Als wir zu Naomi fuhren, sagte sie unvermittelt: »Sie sind verhaftet worden, stimmt’s?«
Beinahe hätte ich eine rote Ampel überfahren. Sie hatte vor der Tür zu unserem Büro geschlafen und konnte kaum lesen. Wie war sie an diese Information gekommen?
»Ja, das stimmt.« »Hab ich mir gedacht.« »Woher wissen Sie das?«
»Auf der Straße hört man so allerlei.«
Natürlich. Wozu Zeitungen lesen? Die Obdachlosen hatten ihr eigenes Nachrichtensystem. Der junge Anwalt drüben bei Mordecai ist verhaftet worden.
Die Bullen sind einfach reinspaziert und haben ihn mitgenommen, wie einen von uns.
»Es war ein Missverständnis«, sagte ich, als wäre das für sie von Bedeutung.
Sie hatten schon ohne sie angefangen zu singen - wir hörten sie, als wir bei Naomi die Stufen zum Eingang hinaufgingen. Megan öffnete uns die Tür und lud mich auf eine Tasse Kaffee ein. Im Gemeinschaftsraum, der früher sicher ein hübscher Salon gewesen war, sangen die Frauen und erzählten einander von ihren Problemen. Wir sahen ihnen ein paar Minuten lang zu. Als einziger Mann kam ich mir wie ein Eindringling vor.
Megan schenkte mir in der Küche eine Tasse Kaffee ein und führte mich kurz durch das Haus. Weil die Frauen nicht weit entfernt beteten, flüsterten wir. In der Nähe der Küche im Erdgeschoss gab es Toiletten und Duschen; hinter dem Haus befand sich ein kleiner Garten, in den sich Frauen, die an Depressionen litten, gern zurückzogen. Im ersten Stock waren Büros, Beratungsräume und ein mit Stühlen ausgestatteter Saal, in dem sich die Anonymen Alkoholiker und Drogenabhängigen trafen.
Als wir die schmale Treppe hinaufgingen, ertönte von unten fröhliches Singen.
Megans Büro befand sich im zweiten Stock. Sie bat mich herein, und als ich mich gesetzt hatte, warf sie mir eine Ausgabe der Post auf den Schoß.
»Sie haben eine
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