Der Verrat
war düster und grau, und vom Michigansee wehte ein schneidender Wind.
Es war das dritte Mal, dass ich in Chicago war, und bei meinen anderen beiden Besuchen war das Wetter ebenso unfreundlich gewesen. Ich kaufte mir einen Becher Kaffee und eine Zeitung, hinter der ich mich verstecken konnte, fand einen geeigneten Tisch in einer Ecke des riesigen Atriums und legte mich auf die Lauer. Die Rolltreppen gingen im Zickzack hinauf zur ersten und zweiten Ebene, wo Dutzende von Aufzügen warteten.
Gegen halb acht wimmelten zahllose Menschen geschäftig durch das Erdgeschoss.
Um acht, nach drei Bechern Kaffee, war ich angespannt und glaubte, es müsse jeden Augenblick soweit sein. Auf den Rolltreppen standen Hunderte von Angestellten, Anwälten und Sekretärinnen, die allesamt dick vermummt waren und einander erstaunlich ähnlich sahen.
Um zwanzig nach acht trat Hector Palma zusammen mit anderen Pendlern von der Südseite des Gebäudes in das Atrium. Er fuhr sich mit den Fingern durch das windzerzauste Haar und steuerte auf eine Rolltreppe zu. So unauffällig wie möglich schlenderte ich zu einer anderen und folgte ihm. Oben sah ich, wie er um eine Ecke bog und auf einen Aufzug wartete.
Es war eindeutig Hector, und ich beschloss, mein Glück nicht überzustrapazieren.
Wenn meine Vermutung stimmte, hatte man ihn bei Nacht und Nebel von Washington nach Chicago gebracht, wo man ihn im Auge behalten, bestechen und notfalls auch massiv unter Druck setzen konnte.
Ich wusste, wo er war und in den nächsten acht bis zehn Stunden sein würde. Von der zweiten Ebene des Atriums aus hatte ich eine herrliche Aussicht auf den See.
Ich rief Megan an. Ruby hatte auch diese Nacht überstanden -jetzt war sie schon achtundvierzig Stunden clean. Dann wählte ich Mordecais Nummer und erzählte ihm von meiner erfolgreichen Suche.
Laut dem Drake & Sweeney-Handbuch des vergangenen Jahres gab es in der Chicagoer Immobilienabteilung drei Teilhaber. Auf dem Wegweiser im Atrium waren sie aufgeführt, in der einundfünfzigsten Etage. Meine Wahl fiel auf Dick Heile.
Um neun Uhr fuhr ich hinauf in die einundfünfzigste Etage und trat aus dem Aufzug in eine vertraute Umgebung: Marmor, Messing, Walnussholz, indirekte Beleuchtung, teure Teppiche.
Als ich auf die Empfangsdame zuschlenderte, sah ich mich unauffällig nach Toilettentüren um, konnte aber keine entdecken.
Sie trug einen Telefonkopfhörer mit Mikrofon, in das sie gerade sprach. Ich runzelte die Stirn und tat, als hätte ich Schmerzen.
»Ja, Sir?« sagte sie lächelnd zwischen zwei Anrufen.
Ich biss die Zähne zusammen, holte zischend Luft und sagte: »Ich habe für neun Uhr einen Termin bei Dick Heile, aber ich fühle mich gar nicht gut.
Wahrscheinlich habe ich etwas Falsches gegessen. Gibt es hier in der Nähe eine Toilette?« Ich presste die Hände auf den Magen, ging ein bißchen in die Knie und vermittelte offenbar erfolgreich den Eindruck, als müsste ich mich gleich auf ihren Schreibtisch übergeben.
Das Lächeln verschwand, als sie aufsprang und auf einen Gang zeigte. »Dort entlang, um die Ecke und dann rechts.«
Ich setzte mich in Bewegung, noch immer zusammengekrümmt, als würde es im nächsten Augenblick aus mir herausbrechen. »Danke«, stieß ich hervor.
»Kann ich irgendwas für Sie tun?«
Ich schüttelte den Kopf. Es ging mir so schlecht, dass ich nicht sprechen konnte. Auf der Toilette schloss ich mich in eine Kabine ein und wartete.
So häufig wie ihr Telefon läutete, war sie viel zu beschäftigt, um sich über mich Gedanken zu machen. Ich sah aus wie ein Anwalt aus einer großen Kanzlei und würde niemandem auffallen. Nach zehn Minuten verließ ich die Toilette und ging weiter den Gang entlang. Vom ersten unbesetzten Schreibtisch nahm ich ein paar zusammengeheftete Papiere, auf die ich im Gehen etwas kritzelte, als hätte ich Wichtiges zu tun. Ich warf unauffällige Blicke nach links und rechts: Namensschildchen an den Türen und auf den Schreibtischen, Sekretärinnen, die zu beschäftigt waren um aufzusehen, grauhaarige Anwälte mit aufgekrempelten Hemdsärmeln, junge Anwälte, die hinter angelehnten Türen telefonierten, Phonotypistinnen, die auf ihren Schreibmaschinen tippten.
Es war alles so vertraut!
Hector hatte ein eigenes Büro. Es war ein kleiner Raum ohne Namensschild. Ich sah ihn durch die halboffene Tür, trat sogleich ein und schlug sie hinter mir zu.
Er fuhr auf seinem Sessel zurück und hob abwehrend die Hände, als wäre ich
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