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Der Verrat

Der Verrat

Titel: Der Verrat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Grisham
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egoistisch sein wie ich, beschloss sie, Medizin zu studieren. Ich hielt das für eine sehr gute Idee. Es befreite mich weitgehend von meinen Schuldgefühlen.
    Nach vier Jahren in der Kanzlei begannen meine Vorgesetzten, Andeutungen über eine Beförderung zum Teilhaber zu machen. Die jungen Mitarbeiter registrierten solche Andeutungen und verglichen sie miteinander. Allgemein war man der Ansicht, dass ich direkt auf eine Teilhaberschaft zusteuerte. Allerdings würde ich noch härter arbeiten müssen als bisher.
    Claire war entschlossen, weniger Zeit in unserer Wohnung zu verbringen als ich, und so gaben wir uns beide der Idiotie einer extremen Arbeitssucht hin. Wir hörten auf, uns zu streiten, und lebten uns immer weiter auseinander. Sie hatte, wie ich, ihre eigenen Freunde und Interessen. Zum Glück hatten wir nicht den Fehler begangen, Kinder zu bekommen.
    Ich wollte, ich hätte es anders gemacht. Wir hatten uns geliebt und unsere Liebe verschenkt.
    Als ich die dunkle Wohnung betrat, brauchte ich Claire, zum erstenmal seit Jahren. Wenn man dem Tod ins Auge gesehen hat, muss man mit jemandem darüber sprechen. Man braucht das Gefühl, gebraucht zu werden, man sehnt sich danach, in den Arm genommen zu werden, und will jemanden sagen hören, dass er sich Sorgen gemacht hat.
    Ich schenkte mir einen Wodka auf Eis ein und setzte mich auf das Sofa im Fernsehzimmer. Anfangs war ich gekränkt und wütend, weil ich allein war, aber dann wandten sich meine Gedanken den sechs Stunden zu, die ich in Misters Gesellschaft verbracht hatte.
    Zwei Wodkas später hörte ich Claire an der Tür. Sie schloss auf und rief:
    »Michael?«
    Ich sagte nichts. Ich war noch immer gekränkt und wütend. Sie kam ins Fernsehzimmer und blieb stehen, als sie mich sah. »Ist alles in Ordnung?« fragte sie. In ihrer Stimme lag echte Sorge.
    »Mir geht’s gut«, sagte ich leise.
    Sie ließ ihre Tasche und den Mantel fallen, trat zum Sofa und beugte sich über mich.

    »Wo warst du?« fragte ich.
    »Im Krankenhaus.«
    »Ach ja, natürlich.« Ich nahm einen großen Schluck Wodka. »Ich hatte übrigens einen anstrengenden Tag.«
    »Ich weiß, was passiert ist, Michael.«
    »Tatsächlich?«
    »Natürlich.«
    »Dann würde ich gern wissen, wo du warst.«
    »Im Krankenhaus.«
    »Neun Menschen werden von einem Verrückten als Geiseln genommen. Acht Familien kommen in die Kanzlei, weil sie ein wenig besorgt sind. Wir haben Glück und werden befreit, und ich muss mich von meiner Sekretärin nach Hause fahren lassen.«
    »Ich konnte nicht kommen.«
    »Natürlich konntest du nicht kommen. Wie gedankenlos von mir.«
    Sie setzte sich in den Sessel neben dem Sofa. Wir starrten einander wütend an.
    »Sie haben uns nicht weggelassen«, begann sie mit eisiger Stimme. »Wir wussten von der Geiselnahme. Es bestand die Möglichkeit, dass es Verletzte geben würde.
    In solchen Situationen ist das Routine: Die Krankenhäuser werden benachrichtigt, und dort ist alles in Bereitschaft.«
    Ich trank noch einen großen Schluck und suchte nach einer schlagfertigen Antwort.
    »In der Kanzlei konnte ich dir nicht helfen«, sagte sie. »Ich habe im Krankenhaus gewartet.«
    »Hast du angerufen?«
    »Ich hab’s versucht und bin nicht durchgekommen. Schließlich hat ein Polizist abgenommen und gleich wieder aufgelegt.«
    »Wir sind vor zwei Stunden befreit worden. Wo bist du gewesen?«
    »Im OP. Wir hatten einen kleinen Jungen, der angefahren worden war. Er ist während der Operation gestorben.«
    »Tut mir leid«, sagte ich. Ich konnte nie verstehen, wie Ärzte es aushielten, ständig mit dem Tod konfrontiert zu sein. Mister war erst der zweite Tote gewesen, den ich gesehen hatte.
    »Mir auch«, sagte sie, ging in die Küche und kam mit einem Glas Wein zurück.
    Eine Weile saßen wir schweigend im Halbdunkel. Wir hatten wenig Übung in Kommunikation, und so fiel uns das Reden schwer.
    »Möchtest du darüber sprechen?« fragte sie.
    »Nein. Nicht jetzt.« Ich wollte wirklich nicht darüber sprechen. Der Alkohol verstärkte die Wirkung der Tablette, die man mir gegeben hatte. Ich atmete tiefer. Ich dachte an Mister und daran, wie ruhig und gelassen er gewesen war, obwohl er mit einer Pistole herumgefuchtelt und ein paar Stangen Dynamit am Körper getragen hatte. Auch lange Zeiten der Stille hatten ihm offenbar nicht das geringste ausgemacht
    Stille - das war es, was ich jetzt wollte. Morgen konnten wir reden.

    VIER

    Das Mittel wirkte bis vier Uhr morgens. Beim Aufwachen hatte

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