Der Verrat
studierte ich täglich. Dabei spielten honorarfähige Stunden eine gewisse Rolle. Unter meinen Top Ten waren stets die reichsten Mandanten, ganz gleich, wie dringlich ihre juristischen Probleme waren. Auch dies war ein Trick, den ich von Rudolph gelernt hatte.
Man erwartete, dass ich zweitausendfünfhundert Stunden pro Jahr in Rechnung stellte. Wenn man fünf/ig Wochen zugrundelegt, waren das fünfzig Stunden pro Woche. Mein durchschnittlicher Honorarsatz lag bei dreihundert Dollar pro Stunde, und das hieß, dass ich meiner geliebten Kanzlei jährlich siebenhundertfünfzigtausend Dollar einbrachte. Davon bekam ich hundertzwanzigtausend sowie einen Bonus von dreißigtausend. Zweihunderttausend wurden für laufende Kosten aufgewendet, und der Rest ging an die Teilhaber und wurde jährlich nach einem unglaublich komplizierten Schlüssel aufgeteilt, über dessen Festlegung es gewöhnlich zu heftigen Auseinandersetzungen kam.
Ein Teilhaber verdiente selten weniger als eine Million im Jahr, und einige verdienten über zwei Millionen. Und eine Ernennung zum Teilhaber galt auf Lebenszeit. Wenn ich es also bis zu meinem fünfunddreißigsten Lebensjahr schaffte, Teilhaber zu werden - und bei dem Tempo, das ich vorlegte, war das durchaus im Bereich des Möglichen -, dann erwarteten mich dreißig Jahre voll gewaltiger Einkünfte und immensem Reichtum.
Das war der Traum, der uns zu allen Tages- und Nachtzeiten an den Schreibtisch fesselte.
Ich kritzelte diese Zahlen auf ein Blatt Papier. Es war eine Rechnung, die ich oft und gern anstellte, und ich vermutete, das alle Anwälte in unserer Kanzlei das taten. In diesem Augenblick läutete das Telefon. Es war Mordecai Green.
»Mr. Brock?« sagte er höflich. Seine Stimme war gut zu verstehen, musste sich jedoch gegen viele Hintergrundgeräusche durchsetzen.
»Ja«, sagte ich. »Bitte nennen Sie mich Michael.«
»Gut. Ich habe ein bißchen herumtelefoniert. Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen - der Bluttest war negativ.«
»Danke.«
»Keine Ursache. Ich dachte nur, Sie würden das Ergebnis so bald wie möglich wissen wollen.«
»Danke«, sagte ich nochmals. Der Lärm im Hintergrund wurde lauter. »Wo sind Sie?«
»In einer Notunterkunft. Der Schnee treibt die Leute schneller herein, als wir sie füttern können, also sind alle Helfer im Einsatz. Ich muss an die Arbeit.«
Der Tisch war aus altem Mahagoni, der Teppich stammte aus Persien, die Sessel waren mit karminrotem Leder bezogen, alle technischen Geräte waren vom Neuesten und Feinsten. Als ich mein schön ausgestattetes Zimmer betrachtete, fragte ich mich zum ersten Mal, wie viel das alles gekostet haben mochte. Jagten wir nicht bloß dem Geld nach? Warum arbeiteten wir so schwer? Um einen kostbareren Teppich oder einen älteren Schreibtisch zu kaufen?
In meinem warmen, gemütlichen, schönen Zimmer dachte ich an Mordecai Green, der in diesem Augenblick als freiwilliger Helfer in einer überfüllten Notunterkunft Essen an frierende, hungrige Menschen austeilte, zweifellos mit einem warmen Lächeln und einem freundlichen Wort.
Wir hatten beide Jura studiert, hatten dieselben Prüfungen abgelegt und beherrschten die komplizierte Sprache der Juristen. Ich half meinen Mandanten, ihre Konkurrenten zu schlucken, damit die Bilanzsumme mehr Nullen aufwies, und dafür würde ich reich werden. Er half seinen Mandanten, etwas zu essen und ein warmes Bett zu finden.
Ich betrachtete das Gekritzel auf dem Papier - mein Jahreseinkommen, der Weg zum Reichtum - und stellte fest, dass es mich traurig machte. Soviel offenkundige, schamlose Gier!
Das Läuten des Telefons riss mich aus meinen Gedanken.
»Warum bist du noch im Büro?« fragte Claire. Sie sprach sehr langsam und deutlich, und jedes Wort war mit einer Eisschicht überzogen.
Ich sah ungläubig auf meine Uhr. »Ich … äh … ein Mandant von der Westküste hat angerufen. Bei denen schneit es nicht.«
Ich glaube, ich hatte diese Lüge schon einmal benutzt. Es spielte keine Rolle.
»Ich warte, Michael. Soll ich lieber zu Fuß gehen?«
»Nein, ich komme so schnell ich kann.«
Ich hatte sie schon öfter warten lassen. Das gehörte zum Spiel: Wir waren viel zu beschäftigt, um pünktlich zu sein.
Ich rannte hinaus in den Schneesturm. Eigentlich machte es mir nicht sehr viel aus, dass wieder einmal ein Abend ruiniert war.
SECHS
Endlich schneite es nicht mehr. Claire und ich saßen am Küchenfenster und tranken Kaffee. Ich las im Licht der strahlenden Morgensonne
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