Der Verrat
normale Vorgehensweise wäre gewesen, ihn anzurufen und einen Termin zu vereinbaren. Aber die normale Vorgehensweise interessierte mich im Augenblick nicht.
Er bot mir keinen Stuhl an. Ich setzte mich trotzdem, was seine Laune nicht verbesserte.
»Sie waren eine der Geiseln«, sagte er in ärgerlichem Ton, als ihm dämmerte, warum ich gekommen war.
»Ja.«
»Muss schlimm gewesen sein.«
»Jetzt ist es vorbei. Mr. Hardy, der Mann mit der Pistole, wurde am 4. Februar im Zuge einer Zwangsräumung aus einem Lagerhaus vertrieben. Wurde diese Zwangsräumung von unserer Kanzlei beantragt?«
»Allerdings.« Er war sehr zugeknöpft, und ich nahm an, dass er sich die Akte heute noch einmal vorgenommen hatte. Wahrscheinlich hatte er sie zusammen mit Arthur und den anderen hohen Tieren gründlich durchgesehen. »Was ist damit?«
»War Hardy ein Hausbesetzer?«
»Darauf können Sie Gift nehmen. Die haben allesamt illegal dort gewohnt. Unser Mandant versucht, diese Plage ein bißchen einzudämmen.«
»Sind Sie sicher, dass er ein Hausbesetzer war?«
Sein Kinn klappte herunter, und seine Augen wurden schmal. Er holte tief Luft.
»Was wollen sie eigentlich?«
»Könnte ich die Akte mal sehen?«
»Nein. Der Fall geht Sie nichts an.«
»Vielleicht geht er mich doch etwas an.«
»Wer ist Ihr leitender Teilhaber?« Er zückte einen Stift, als wollte er sich den Namen des Mannes notieren, der mich zurechtweisen würde.
»Rudolph Mayes.«
Er schrieb es in Großbuchstaben auf. »Ich bin sehr beschäftigt«, sagte er.
»Würden Sie jetzt bitte gehen?«
»Warum kann ich die Akte nicht sehen?«
»Weil es meine ist und ich es nicht will. Das reicht als Begründung.«
»Vielleicht reicht es nicht.«
»Für Sie reicht es. Und jetzt gehen Sie bitte.« Er stand auf und wies mit zitternder Hand auf die Tür. Ich lächelte ihn an und ging hinaus.
Der Gehilfe hatte alles gehört. Als ich an seinem Tisch vorbeikam, wechselten wir verwunderte Blicke. »Was für ein Idiot«, sagte er so leise, dass ich es von seinen Lippen ablesen musste.
Ich lächelte abermals und nickte. Ein Idiot, und obendrein ungehobelt. Wenn Chance mir freundlich erklärt hätte, Arthur oder irgendein anderes hohes Tier habe angeordnet, die Akte sei unter Verschluss zu halten, hätte ich keinen Verdacht geschöpft. Doch nun war offensichtlich, dass sie irgend etwas Interessantes enthielt. Es würde nicht leicht sein, die Akte zu bekommen.
Angesichts der vielen elektronischen Kommunikationsgeräte, die Claire und ich besaßen - Handy, Autotelefon, nicht zu vergessen diverse Pager -, hätte es ganz einfach sein müssen, in Verbindung zu bleiben. Doch in unserer Ehe war nichts einfach. Gegen neun Uhr telefonierten wir schließlich miteinander. Sie war erschöpft von einem Arbeitstag, der wie immer weit anstrengender gewesen war, als meine es je sein konnten. Es war ein Spiel, das wir bis an die Grenze ausreizten: Meine Arbeit ist wichtiger, weil ich Ärztin, weil ich Anwalt bin.
Dieses Spiel ging mir langsam auf die Nerven. Ich spürte, wie sehr ihr die Vorstellung gefiel, dass meine Begegnung mit dem Tod Nachwirkungen hatte, dass ich meinen Schreibtisch verlassen hatte und ziellos durch die Straßen von Washington gefahren war. Ihr Tag war zweifellos sehr viel produktiver gewesen als meiner.
Sie hatte den Ehrgeiz, die beste Neurochirurgin des Landes zu werden, eine Ärztin, an die sich sogar Männer wenden würden, wenn es keinerlei Hoffnung mehr gab. Sie war eine ausgezeichnete Studentin, wild entschlossen und mit einem enormen Durchhaltevermögen gesegnet. Sie würde die Männer hinter sich lassen, so wie sie auch mich langsam hinter sich ließ, einen gewieften Aufsteiger mit Durchhaltevermögen. Das Rennen zog sich schon zu lange hin.
Sie fuhr einen Miata Sportwagen ohne Allradantrieb, und angesichts des schlechten Wetters machte ich mir ein wenig Sorgen um sie. Sie würde in einer Stunde fertig sein - etwa die Zeit, die ich brauchte, um zum Georgetown Hospital zu fahren. Ich würde sie abholen, und dann würden wir versuchen, uns auf ein Restaurant zu einigen. Sollte uns das nicht gelingen, würden wir uns etwas beim Chinesen holen. Wir lebten praktisch von chinesischem Essen.
Ich ordnete die Papiere und Gegenstände auf meinem Schreibtisch und übersah dabei geflissentlich die zehn aktuellen Fälle, die dort aufgereiht standen. Ich hatte immer nur zehn Akten auf meinem Tisch - eine Methode, die ich von Rudolph übernommen hatte -, und jede davon
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