Der Verrat
überhaupt nicht interessierten. Ich ging zu meinem Computer und begann, unser Mandantenverzeichnis zu durchsuchen. »
RiverOaks war eine Gesellschaft mit Sitz in Delaware, gegründet 1977, Hauptverwaltung in Hagerstown, Maryland. Sie befand sich in Privatbesitz, so dass nur wenige Informationen über ihre Finanzlage verfügbar waren. Der für RiverOaks zuständige Anwalt hieß N. Braden Chance. Ich hatte den Namen noch nie gehört.
Ich sah in unserer riesigen Datenbank nach. Chance war Teilhaber und arbeitete in der Immobilienabteilung, irgendwo unten in der dritten Etage. Vierundvierzig Jahre alt, verheiratet, College in Gettysburg, danach Jurastudium in Duke. Ein beeindruckender, aber durch und durch geradliniger Werdegang.
Bei achthundert Anwälten, die täglich Druck ausübten und prozessierten, hatte unsere Kanzlei über sechsunddreißigtausend aktive Dateien. Damit unsere Vertretung in New York nicht einen unserer Mandanten in Chicago verklagte, wurde jede neue Datei unverzüglich in der Datenbank abgelegt. Jeder Anwalt, jede Sekretärin, jeder Gehilfe bei Drake & Sweeney hatte einen Computer und somit ungehinderten Zugang zu allen allgemeinen Informationen über Mandanten. Wenn einer unserer Anwälte für Erbschaftsrecht in Palm Beach den Nachlass eines reichen Mandanten regelte, brauchte ich nur ein paar Tasten zu drücken, und schon war ich über die Grundzüge des Falls im Bilde.
Es gab zweiundvierzig RiverOaks-Dateien, und in fast allen Fällen war es um Grundstückskäufe gegangen. Der zuständige Anwalt war jedesmal Chance gewesen. In vier Fällen war es um Zwangsräumungen gegangen, von denen drei im letzten Jahr stattgefunden hatten. Die erste Phase der Recherche war einfach.
Am 31. Januar hatte RiverOaks ein Objekt an der Florida Avenue erworben. Der Verkäufer war eine Gesellschaft namens TAG, Inc. Am 4. Februar hatte unser Mandant eine Anzahl Hausbesetzer aus dem verlassenen Lagerhaus vertreiben lassen. Einer dieser Hausbesetzer war, wie ich inzwischen wusste, Mister Devon Hardy gewesen, der die Zwangsräumung persönlich genommen und die verantwortliche Kanzlei aufgespürt hatte.
Ich notierte mir den Namen und die Nummer der Datei und machte mich auf den Weg in die dritte Etage.
Niemand, der in eine große Kanzlei eintrat, hatte das Ziel, Immobilienanwalt zu werden. Schließlich gab es andere, weit prestigeträchtigere Arenen, in denen man sich einen Ruf erwerben konnte. Die Prozessabteilung war seit jeher ein bevorzugtes Ziel, und Prozessanwälte genossen noch immer die größte Bewunderung
- zumindest in der Kanzlei. Einige vielversprechende Talente fühlten sich zum Körperschaftsrecht hingezogen - Fusionen und Übernahmen waren begehrte Abteilungen, die Effektenabteilung erfreute sich beständiger Popularität. Auch mein Spezialgebiet - Kartellrecht - war hoch angesehen. Steuerrecht war schrecklich kompliziert, doch wer sich darauf spezialisierte, genoss großen Respekt. Und die Pflege der politischen Landschaft (die Tätigkeit als Lobbyist) war zwar widerwärtig, aber so lohnend, dass jede größere Kanzlei in Washington ganze Rudel von Anwälten beschäftigte, die nichts anderes zu tun hatten, als die Gesetzgebungsmaschinerie an den richtigen Stellen zu schmieren.
Doch niemand hatte das Ziel, Immobilienanwalt zu werden. Ich wusste nicht, wie man einer wurde. Immobilienanwälte blieben unter sich, lasen wahrscheinlich unentwegt das Kleingedruckte in Hypothekenverträgen und galten beim Rest der Kanzlei als irgendwie mittelmäßig.
Bei Drake & Sweeney bewahrte jeder Anwalt die Unterlagen für die aktuellen Fälle in seinem Büro auf, oft in einem verschlossenen Schrank. Nur die erledigten Fälle wurden den anderen Mitarbeitern zugänglich gemacht. Kein Anwalt konnte gezwungen werden, einem anderen Einsicht in die Akten zu geben, es sei denn, ein Seniorteilhaber oder ein Mitglied des Vorstands forderte ihn dazu auf.
Die Akte über die Zwangsräumung trug immer noch den Vermerk »aktuell«, und ich war sicher, dass sie jetzt, nach der Mister-Episode, vor jedem Zugriff geschützt sein würde.
An einem Tisch neben dem Schreibzimmer stand ein Gehilfe und scannte Blaupausen ein. Ich fragte ihn nach dem Büro von Braden Chance, und er nickte in Richtung einer offenen Tür auf der anderen Seite des Gangs.
Zu meiner Überraschung saß Chance an seinem Schreibtisch und machte den Eindruck eines sehr beschäftigten Mannes. Er war konsterniert über meinen Besuch, und das mit Recht. Die
Weitere Kostenlose Bücher