Der Verrat
ihren Golfwagen über die Fairways fuhren.
»Was ist los?« fragte sie, kaum dass wir uns gesetzt hatten und noch bevor ich einen Schluck Tee getrunken hatte.
»Nichts. Mir geht’s gut.«
»Wo ist Claire? Ihr ruft uns nie an Ich habe ihre Stimme seit zwei Monaten nicht gehört.« ,
»Claire geht’s gut, Mom. Wir sind beide gesund und munter und arbeiten sehr viel.«
»Verbringt ihr genug Zeit miteinander?«
»Nein.«
»Verbringt ihr überhaupt Zeit miteinander?«
»Nicht viel.«
Sie runzelte die Stirn, sah mich mit mütterlicher Sorge an und ging zum Angriff über. »Seid ihr in Schwierigkeiten?« fragte sie.
»Ja.«
»Ich wusste es. Ich wusste es. Ich hab’s deiner Stimme angehört, als du vorhin angerufen hast. Aber ihr wollt euch doch wohl nicht scheiden lassen? Habt ihr es mit einer Partnerschaftsberatung probiert?«
»Nein. Beruhige dich, Mom.«
»Aber warum? Sie ist ein wunderbarer Mensch, Michael. In einer Ehe muss man einander alles geben, was man hat.«
»Das versuchen wir ja, Mom. Aber es ist schwierig.«
»Affären? Drogen? Alkohol? Glücksspiel? Irgendwelche schlimmen Sachen?«
»Nein. Nur zwei Menschen, die getrennte Wege gehen. Ich arbeite achtzig Stunden pro Woche. Sie arbeitet die anderen achtzig.«
»Dann arbeitet weniger. Geld ist nicht alles.« Ihre Stimme zitterte ein wenig, und in ihren Augen standen Tränen.
»Es tut mir leid, Mom. Wenigstens haben wir keine Kinder.«
Sie biss sich auf die Unterlippe und versuchte Haltung zu bewahren, aber in ihr starb etwas. Ich wusste genau, was sie jetzt dachte: Zwei gescheitert, bleibt noch einer. Sie würde meine Scheidung als ihr persönliches Versagen betrachten, genau wie damals bei meinem Bruder. Sie würde eine Möglichkeit finden, die Schuld auf sich zu nehmen.
Ich wollte kein Mitleid. Um zu einem interessanteren Thema überzuleiten, erzählte ich ihr von Mister und spielte die Gefahr, in der ich gewesen war, herunter. Vielleicht hatte die Geschichte nicht in den hiesigen Zeitungen gestanden, und wenn ja, dann hatten meine Eltern sie übersehen.
»Und dir ist nichts passiert?« fragte sie entsetzt.
»Nein. Die Kugel ist an mir vorbeigeflogen. Ich bin hier.«
»Ja, Gott sei Dank. Ich meine, ob es dir gefühlsmäßig gut geht.«
»Ja, Mom, alles in Ordnung. Ich bin heil und unversehrt. In der Kanzlei wollten sie, dass ich mir ein paar Tage frei nehme, und so bin ich hergekommen.«
»Mein armer Junge. Erst Claire, und dann das.«
»Mir geht’s gut, Mom. Wir hatten gestern eine Menge Schnee - es war ein guter Zeitpunkt, um mal rauszukommen.«
»Ist Claire allein sicher?«
»So sicher wie jeder andere in Washington. Sie lebt praktisch im Krankenhaus, und das ist wahrscheinlich der beste Ort, wo man sich aufhalten kann.«
»Wenn ich die Verbrechensstatistiken sehe, mache ich mir immer solche Sorgen um euch. Washington ist eine sehr gefährliche Stadt.«
»Fast so gefährlich wie Memphis.«
Wir sahen, wie ein Ball in der Nähe der Loggia landete und warteten auf seinen Besitzer. Eine dicke Frau stieg aus einem Golfwagen, blieb kurz bei dem Ball stehen und drosch ihn in weitem Bogen ins Gebüsch.
Meine Mutter ging hinaus, um noch Tee zu holen und sich die Augen zu wischen.
Ich weiß nicht, wer enttäuschter war: meine Mutter oder mein Vater. Meine Mutter wünschte sich starke Familien und viele Enkelkinder. Mein Vater wollte, dass seine Jungs schnell Karriere machten und die schwer verdienten Früchte ihres Erfolges genossen.
Später am Nachmittag gingen mein Vater und ich über den Golfplatz. Er spielte neun Löcher, und ich trank Bier und fuhr den Wagen. Golf übte bis jetzt noch keine besondere Faszination auf mich aus. Zwei kalte Biere, und ich wurde redselig. Ich hatte beim Mittagessen noch einmal von der Geiselnahme erzählt, und so nahm mein Vater an, dass ich mir nur eine kleine Auszeit genommen hatte, bevor ich mich mit neuer Energie in die Arbeit stürzte.
»Ich bin diese große Kanzlei langsam leid, Dad«, sagte ich, als wir am dritten Abschlag warten mussten, bis der Vierer vor uns die Bahn freigab. Ich war nervös, und das ärgerte mich. Schließlich war es mein Leben, nicht seins.
»Was meinst du damit?«
»Damit meine ich, dass ich meine Arbeit leid bin.«
»Herzlich willkommen in der Wirklichkeit. Meinst du vielleicht, der Mann, der in der Fabrik an der Drehbank steht, ist seine Arbeit nicht leid? Du wirst wenigstens reich dabei.«
Die erste Runde ging an ihn. Es war fast ein K.-o.-Sieg. Zwei Löcher
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