Der Verrat
alles gut war: Uns ging es gut, Memphis war gut, Providence war gut, unseren Eltern ging es gut, und Claire würde irgendwann am Sonntag Nachmittag wieder in Washington sein.
Ich legte auf, machte mir einen Kaffee und trank ihn am Schlafzimmerfenster. Ich sah die Autos auf der noch immer schneebedeckten P Street dahinkriechen. Wenn etwas von all dem Schnee geschmolzen war, dann war es mit bloßem Auge nicht zu erkennen.
Ich hatte den Verdacht, dass Claire ihren Eltern dieselbe trostlose Geschichte erzählte, die ich meinen Eltern aufgebürdet hatte. Es war traurig und seltsam, im Grunde aber erstaunlich, dass wir unseren Eltern reinen Wein einschenkten, bevor wir einander die Wahrheit eingestanden. Ich hatte genug davon. Sehr bald, vielleicht schon am Sonntag, würden wir uns irgendwo hinsetzen - wahrscheinlich an den Küchentisch - und der Realität ins Auge sehen. Wir würden einander unsere Ängste und Gefühle eingestehen und, da war ich ganz sicher, mit der Planung einer getrennten Zukunft beginnen. Ich wusste, dass sie sich von mir trennen wollte. Ich wusste nur noch nicht, wie sehr sie es wollte.
Ich probte die Worte, die ich zu ihr sagen würde, so lange, bis sie überzeugend klangen, und machte dann einen langen Spaziergang. Es war zwölf Grad minus, und es ging ein scharfer Wind, so dass die Kälte durch meinen Trenchcoat drang. Ich ging an den hübschen Bungalows und gemütlichen Reihenhäusern vorbei, in denen ich echte Familien essen und lachen und die Behaglichkeit ihrer Wohnung genießen sah, und kam schließlich zur M Street, wo sich die drängten, denen zu Hause die Decke auf den Kopf fiel. Selbst an einem kalten Freitagabend war auf der M
Street jede Menge los: Die Bars waren gut besucht, in den Restaurants musste man auf einen Tisch warten, und die Cafes waren überfüllt.
Ich stand im knöcheltiefen Schnee vor dem Fenster eines Musikklubs, hörte einen Blues und sah den jungen trinkenden und tanzenden Paaren zu. Zum ersten Mal in meinem Leben fühlte ich mich nicht wie ein junger Mann. Ich war zweiunddreißig, aber in den vergangenen sieben Jahren hatte ich mehr gearbeitet als die meisten anderen in zwanzig Jahren. Ich war müde. Ich war nicht alt, aber ich steuerte auf die Mitte des Lebens zu und musste mir eingestehen, dass ich nicht mehr frisch von der Universität kam. Diese hübschen Mädchen da drinnen würden sich nicht nach mir umdrehen.
Mir war kalt, und es hatte wieder angefangen zu schneien. Ich kaufte mir ein Sandwich, stopfte es in die Tasche und stapfte wieder zurück zu unserer Wohnung. Ich mixte mir einen starken Drink, machte ein kleines Feuer im Kamin, aß im Halbdunkel das Sandwich und fühlte mich sehr allein.
Früher hätte mir Claires Abwesenheit einen Grund geliefert, das Wochenende in der Kanzlei zu verbringen, ohne ein schlechtes Gewissen haben zu müssen. Jetzt, da ich am Kamin saß, fand ich diesen Gedanken abstoßend. Drake & Sweeney würden auch lange nach meinem Abgang noch blühen und gedeihen, und um die Mandanten und ihre Probleme, die mir so unerhört bedeutend erschienen waren, würden sich ganze Trupps junger Anwälte kümmern. Für die Kanzlei würde meine Kündigung nichts als eine kleine, kaum wahrnehmbare Irritation sein. Wenige Minuten nachdem ich mein Büro geräumt hatte, würde es einem anderen zugewiesen werden.
Um kurz nach neun läutete das Telefon und riss mich aus einem langen, düsteren Tagtraum. Es war Mordecai Green, der laut in ein Handy sprach. »Sind Sie sehr beschäftigt?« fragte er.
»Äh … eigentlich nicht. Wieso?«
»Es ist eiskalt, es schneit wieder, und wir haben hier zu wenig Helfer. Haben Sie ein paar Stunden Zeit?«
»Wofür?«
»Für Arbeit. Wir brauchen wirklich ein paar Leute, die zupacken können. Die Notunterkünfte und Suppenküchen sind brechend voll, und wir haben nicht genug freiwillige Helfer.«
»Ich weiß nicht, ob ich dafür qualifiziert bin.«
»Können Sie Erdnußbuttersandwiches machen?«
»Ich glaube schon.«
»Dann sind Sie qualifiziert.«
»Okay, wohin soll ich kommen?«
»Wir sind hier ungefähr zehn Blocks vom Büro entfernt. An der Kreuzung 13th und Euclid Street steht rechts eine gelbe Kirche, die Ebenezer Christian Fellowship.
Wir sind im Keller.«
Ich schrieb mir das auf, und meine Schrift wurde mit jedem Wort zittriger. Es war eine Wegbeschreibung in ein Kampfgebiet. Ich wollte mich schon erkundigen, ob ich eine Pistole einstecken sollte, und fragte mich, ob er eine trug Aber er war
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