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Der Verrat

Der Verrat

Titel: Der Verrat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Grisham
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ich am Zug. Aber ich war noch nicht bereit, die Initiative zu ergreifen.
    »Sind Sie Mitglied in der Anwaltsvereinigung?« fragte er.
    »Ich glaube schon. Warum?«
    »Ich war nur neugierig. Die Vereinigung leistet eine Menge Gratisarbeit für die Obdachlosen.«
    Er wollte mich anködern, aber ich ließ mich nicht fangen. »Ich arbeite für Todeskandidaten«, sagte ich stolz, und irgendwie stimmte das sogar. Vor vier Jahren hatte ich einem unserer Teilhaber geholfen, eine Eingabe für einen Todeskandidaten in Texas zu verfassen. Die Kanzlei befürwortete durchaus, dass ihre Mitarbeiter Gratisarbeit leisteten, solange das nicht auf Kosten der honorarfähigen Stunden ging.
    Wir sahen der Mutter und ihren vier Kindern zu. Die kleinen aßen zuerst ihren Keks und warteten darauf, dass ihre Suppe abkühlte. Die Mutter hatte entweder Drogen genommen oder stand unter Schock.
    »Gibt es einen Ort, wo sie für eine Weile wohnen könnten?« fragte ich.
    »Wahrscheinlich nicht«, sagte Mordecai nonchalant und ließ seine großen Füße baumeln. »Gestern standen auf der Warteliste für die Behelfsunterkunft fünfhundert Namen.«
    »Behelfsunterkunft?«
    »Ja. Es gibt eine städtische Behelfsunterkunft, die gnädigerweise geöffnet wird, wenn die Temperatur unter den
    Gefrierpunkt fällt. Die wäre ihre einzige Chance, aber ich bin sicher, dass sie jetzt völlig überfüllt ist. Sobald Tauwetter einsetzt, ist die Stadt so freundlich, die Behelfsunterkunft wieder zu schließen.«
    Der Hilfskoch konnte nicht länger bleiben, und da ich der einzige Helfer war, der im Augenblick nichts zu tun hatte, wurde ich dienstverpflichtet. Während Mordecai Sandwiches machte, schnitt ich eine Stunde lang Zwiebeln, Sellerie und Karotten, alles unter den wachsamen Augen von Miss Dolly, einer der Gründerinnen dieser Kirchengemeinde. Seit elf Jahren gab sie nun schon Essen an die Obdachlosen aus. Es war ihre Küche. Ich fühlte mich geehrt, hier arbeiten zu dürfen, und erfuhr, dass meine Selleriestücke zu groß seien, worauf sie sehr schnell kleiner wurden. Miss Dollys Schürze war makellos weiß, und sie war sehr stolz auf ihre Arbeit.

    »Haben Sie sich eigentlich je an den Anblick dieser Menschen gewöhnt?« fragte ich sie irgendwann. Wir standen am Herd und waren für einen Augenblick abgelenkt durch einen Streit, der weiter hinten im Gange war. Mordecai und der Pfarrer beruhigten die Gemüter, und bald war wieder Frieden eingekehrt.
    »Nein, nie«, sagte sie und wischte sich die Hände an einem Handtuch ab. »Es bricht mir immer noch das Herz. Aber im Buch der Sprüche Salomos heißt es:
    >Glücklich der Mann, der die Armen speist/ Und das gibt mir Kraft.«
    Sie drehte sich um und rührte in der Suppe. »Das Huhn ist fertig«, sagte sie in meine Richtung.
    »Und was heißt das?«
    »Das heißt, dass Sie den Topf vom Herd nehmen, die Brühe in diesen Topf da abgießen, das Huhn abkühlen lassen und es auslösen.«
    Das Auslösen war eine Kunst, jedenfalls wenn man Miss Dollys Methode anwendete.
    Danach waren meine Hände heiß und voller Blasen.

    ACHT

    Mordecai führte mich eine dunkle Treppe hinauf in den Vorraum. »Passen Sie auf, wo Sie hintreten«, sagte er im Flüsterton, als wir durch die Schwingtüren in die Kirche traten. Es war halbdunkel, denn überall waren Menschen, die zu schlafen versuchten. Sie hatten sich auf den Bänken ausgestreckt und schnarchten, sie wälzten sich unruhig unter den Bänken. Mütter ermahnten ihre Kinder, leise zu sein. In den Gängen lagen Menschen und ließen nur einen schmalen Pfad frei, auf dem wir in Richtung Kanzel gingen. Selbst die Chorempore war voller Obdachloser.
    »Es gibt nicht viele Kirchen, die bereit sind, so etwas zu tun«, flüsterte Mordecai, als wir am Altar standen und die Bankreihen überblickten.
    Ich konnte ihre Zurückhaltung verstehen. »Was ist am Sonntag?« flüsterte ich zurück.
    »Kommt auf das Wetter an. Der Pfarrer ist einer von uns. Er hat schon mal den Gottesdienst ausfallen lassen, um die Obdachlosen nicht hinauswerfen zu müssen.«
    Ich wusste nicht recht, was »einer von uns« heißen sollte - jedenfalls fühlte ich mich diesem Klub nicht zugehörig. Ein Deckenbalken knarzte, und ich merkte, dass wir unter einer hufeisenförmigen Empore standen. Ich kniff die Augen zusammen und sah, dass auch dort oben dicht an dicht Menschen schliefen. Auch Mordecai blickte hinauf.
    »Wie viele …« sagte ich und brachte es nicht fertig, den Gedanken zu Ende zu denken.
    »Wir

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