Der Verrat
Essens, den Duft in ihrer Nase. Andere aßen so schnell wie möglich.
Neben mir stand ein Herd mit vier Gasflammen, auf denen vier große Suppentöpfe köchelten. Auf der anderen Seite des Herds war ein Tisch, auf dem Sellerie, Karotten, Zwiebeln, Tomaten und ganze Hühner lagen. Ein Helfer war emsig dabei, mit einem großen Messer das Gemüse zu schneiden und die Hühner zu zerlegen. Zwei weitere standen am Herd. Andere brachten die fertigen Speisen zu den Ausgabetischen. Im Augenblick war ich der einzige Sandwichmann.
»Wir brauchen mehr Erdnußbuttersandwiches«, sagte Mordecai im Vorbeigehen. Er griff unter den Tisch und zog einen Zehn-Liter-Kanister Erdnussbutter hervor.
»Kommen Sie damit zurecht?«
»Darin bin ich Experte«, sagte ich.
Er sah mir zu. Die Schlange war gerade nicht sehr lang; er wollte reden.
»Ich dachte, Sie seien Rechtsanwalt«, sagte ich und strich Erdnussbutter auf die Brote.
»Ich bin in erster Linie Mensch und dann erst Rechtsanwalt. Man kann das durchaus miteinander vereinbaren. Nicht so dick, wir müssen sparen.«
»Woher kommt das Essen eigentlich?«
»Von der Lebensmittelsammelstelle. Alles gespendet. Heute Abend haben wir Glück
- wir haben Suppenhühner gekriegt. Meistens gibt’s nur Gemüse.«
»Das Brot ist nicht gerade frisch.«
»Dafür ist es aber umsonst. Es kommt von einer Großbäckerei - die schicken uns das Zeug vom Vortag. Wenn Sie wollen, können Sie sich ein Sandwich nehmen.«
»Danke, ich hab gerade eins gegessen. Essen Sie auch hier?«
»Selten.« Seiner Leibesfülle nach zu schließen lebte Mordecai nicht von Gemüsesuppe und Äpfeln. Er setzte sich auf die Tischkante und ließ den Blick über die Menge schweifen. »Ist das Ihr erster Besuch in einer Notunterkunft?«
fragte er.
»Ja.«
»Was ist das erste Wort, das Ihnen dazu einfällt?«
»Hoffnungslos.«
»Das war nicht anders zu erwarten. Aber darüber kommen Sie schon hinweg.«
»Wie viele Menschen leben hier?«
»Keiner. Das hier ist nur eine Behelfsunterkunft. Die Küche gibt jeden Tag Mittag- und Abendessen aus, aber eigentlich ist es keine reguläre Notunterkunft. Die Kirche ist so freundlich, die Türen zu öffnen, wenn das Wetter schlecht ist.«
Ich versuchte zu begreifen. »Aber wo leben diese Leute dann?«
»Einige sind Hausbesetzer. Sie leben in verlassenen Gebäuden, und das sind die Glücklichen. Einige leben auf der Straße, in Parks, in Busstationen, unter Brücken. Da können sie überleben, solange das Wetter einigermaßen freundlich ist. Aber heute nacht würden sie erfrieren.«
»Und wo sind die Notunterkünfte?«
»Über die ganze Stadt verstreut. Es gibt ungefähr zwanzig. Die Hälfte wird privat finanziert, die andere Hälfte bezahlt die Stadt, die dank der Budgetkürzungen demnächst zwei Unterkünfte schließen wird.«
»Wie viele Betten?«
»So um die fünftausend.«
»Und wie viele Obdachlose?«
»Das ist eine gute Frage. Die sind nämlich nicht so leicht zu zählen.
Zehntausend ist eine gute Schätzung.«
»Zehntausend?«
»Ja, und das sind nur die, die auf der Straße leben. Es gibt wahrscheinlich noch einmal zwanzigtausend, die bei Familienangehörigen oder Freunden leben und demnächst obdachlos sein werden.«
»Dann sind also mindestens fünftausend Menschen auf der Straße?« fragte ich ungläubig.
»Mindestens.«
Ein Helfer rief nach mehr Brot. Mordecai half mir, und gemeinsam machten wir noch ein Dutzend Erdnußbuttersandwiches. Dann hielten wir inne und betrachteten die Menschen. Die Tür ging auf, und eine junge Mutter mit einem Baby auf dem Arm trat langsam ein. Drei kleine Kinder folgten ihr. Eines davon trug eine kurze Hose, nicht zusammenpassende Strümpfe und keine Schuhe. Es hatte sich ein Handtuch um die Schultern gelegt. Die anderen beiden hatten zwar Schuhe, waren aber zu dünn angezogen. Das Baby schlief anscheinend.
Die Mutter wirkte benommen und wusste offenbar nicht recht, wohin sie sich wenden sollte. An den Tischen war kein Platz frei. Sie führte ihre Kinder zur Essensausgabe, und zwei Helfer traten lächelnd vor. Der eine führte sie zu einer Ecke in der Nähe der Küche und gab ihnen etwas zu essen, während der andere sie mit Decken versorgte.
Mordecai und ich verfolgten das Geschehen. Ich versuchte, nicht allzu offensichtlich hinzustarren. Andererseits: Wer sollte sich daran stören?
»Was geschieht mit ihr, wenn der Schneesturm vorüber ist?« fragte ich.
»Wer weiß? Warum fragen Sie sie nicht selbst?«
Damit war
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