Der Verrat
Autorität in Frage zu stellen.
Ontarios Bauch war wieder gefüllt, und er nickte ein. Sein kleiner Kopf lag auf den Füßen seiner Mutter. Ich schlich in die Küche, schenkte mir noch eine Tasse Kaffee ein und setzte mich wieder auf meinen Stuhl in der Ecke.
Dann begann das Baby zu schreien. Sein jämmerliches Weinen war von erstaunlicher Lautstärke und schien sich in Wellen im ganzen Raum auszubreiten. Die Mutter war benommen, müde und verärgert, weil sie geweckt worden war. Sie sagte dem Baby, es solle den Mund halten, legte es sich auf die Schulter und wiegte sich vor und zurück. Es schrie nur noch mehr, und unter den anderen Schlafenden wurde wütendes Gemurmel laut.
Ohne nachzudenken beugte ich mich vor und nahm ihr das Kind ab. Dabei lächelte ich sie an, um ihr Vertrauen zu gewinnen. Es war ihr gleichgültig - sie war froh, das Kind loszuwerden.
Das Baby wog so gut wie nichts und war tropfnass. Das merkte ich allerdings erst, als ich es an meine Schulter legte und ihm beruhigend auf den Rücken klopfte. Ich ging in die Küche und suchte verzweifelt nach Mordecai oder einem anderen Helfer, der mich retten würde. Miss Dolly war vor einer Stunde nach Hause gegangen.
Zu meiner Überraschung und Erleichterung verstummte das Baby, als ich um den Herd herumging, ihm auf den Rücken klopfte, beruhigende Laute von mir gab und nach einem Handtuch oder etwas ähnlichem suchte. Meine Hand war feucht.
Wo war ich? Was zum Teufel machte ich hier eigentlich? Was würden meine Freunde denken, wenn sie sehen könnten, wie ich in dieser dunklen Küche umherging, dem Baby einer Obdachlosen etwas vorsummte und betete, dass die Windel nur nass war?
Ich roch nichts Schlimmeres als Urin, aber ich spürte förmlich, wie Läuse vom Kopf des Kindes auf meinen umstiegen. Mein bester Freund Mordecai erschien und schaltete das Licht an. »Wie süß«, sagte er.
»Gibt’s hier irgendwo Windeln?« flüsterte ich.
»Pipi oder Kaka?« fragte er freundlich und ging zu einem Schrank.
»Weiß ich nicht. Machen Sie schnell.«
Er holte eine Packung Windeln aus dem Schrank, und ich drückte ihm das Baby in den Arm. Meine Jeansjacke hatte einen großen, nassen Fleck an der linken Schulter. Mit beeindruckender Geschicklichkeit legte er das Kind auf die Arbeitsfläche, zog ihm die nasse Windel aus - wobei sich herausstellte, dass es sich um ein Mädchen handelte -, wischte es mit einem Öltuch ab und zog ihm eine frische Windel an. »Hier«, sagte er stolz und gab es mir zurück. »So gut wie neu.«
»Was man beim Jurastudium doch alles nicht lernt«, sagte ich.
Ich ging eine Stunde lang auf und ab, bis das Baby eingeschlafen war. Dann wickelte ich es in meine Jacke und legte es vorsichtig zwischen seine Mutter und Ontario.
Inzwischen war es fast drei Uhr morgens. Ich musste gehen. Mein gerade erst wiedererwachtes Gewissen konnte nur ein bestimmtes Quantum Elend pro Tag verkraften. Mordecai begleitete mich bis zur Tür, dankte mir für mein Kommen und schickte mich ohne Jacke hinaus in die Nacht. Mein Wagen stand dort, wo ich ihn geparkt hatte. Er war schneebedeckt.
Als ich davonfuhr, stand Mordecai vor der Kirche und sah mir nach.
NEUN
Seit dem vergangenen Dienstag, als ich Mister begegnet war, hatte ich für Drake
& Sweeney keine einzige Stunde in Rechnung gestellt. In fünf Jahren hatte ich im Durchschnitt zweihundert Stunden pro Monat berechnet, also acht Stunden am Tag, sechs Tage pro Woche, und noch ein paar Extrastunden hier und da. Kein Tag durfte vergeudet werden, und nur sehr wenige Stunden erschienen auf keiner Abrechnung. Wenn ich, was nur selten vorkam, hinter meinem Durchschnitt zurückblieb, arbeitete ich am Samstag zwölf Stunden und am Sonntag vielleicht noch einmal zwölf. Wenn ich nicht unter dem Durchschnitt lag, arbeitete ich samstags nur sieben bis acht Stunden und noch ein paar am Sonntag. Kein Wunder, dass Claire lieber Medizin studierte.
Als ich am späten Samstagmorgen an die Schlafzimmerdecke starrte, fühlte ich mich wie gelähmt. Ich wollte nicht in die Kanzlei fahren. Schon bei dem Gedanken daran sträubte sich alles in mir. Wenn ich an die ordentlichen Reihen rosafarbener Telefonnotizen dachte, die Polly auf meinen Schreibtisch gelegt hatte, an die Memos von den Teilhabern aus den oberen Etagen, die sich nach meinem Befinden erkundigten und mit mir sprechen wollten, an die neugierigen Fragen der Gerüchteköche und das unvermeidliche: »Wie geht’s?« von Freunden, ehrlich Besorgten und
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