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Der Verrat

Der Verrat

Titel: Der Verrat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Grisham
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zählen sie nicht. Wir geben ihnen Essen und ein Dach über dem Kopf.«
    Eine Windbö traf die Seite des Gebäudes und ließ die Fenster klirren. In der Kirche war es erheblich kälter als im Keller. Wir stiegen auf Zehenspitzen über die Schlafenden und verließen den Raum durch eine Tür neben der Orgel.
    Es war fast elf. Im Keller war es immer noch voll, doch die Schlange an der Essensausgabe war verschwunden. »Kommen Sie mit«, sagte Mordecai.
    Er nahm eine Plastikschale und hielt sie einem Helfer hin, damit er sie füllte.
    »Wollen mal sehen, wie gut Sie kochen können«, sagte er und lächelte.
    Wir setzten uns mitten unter die Obdachlosen an einen Klapptisch. Er aß und sprach, als wäre alles in schönster Ordnung, doch ich war dazu nicht fähig. Ich rührte in meiner Suppe, die dank Miss Dollys Bemühungen wirklich sehr gut schmeckte, konnte aber nicht glauben, dass ich, Michael Brock, ein wohlsituierter Weißer aus Memphis, Rechtsanwalt in der Kanzlei Drake & Sweeney, in Northwest in einem Kirchenkeller zwischen Obdachlosen saß. Ich hatte nur ein einziges weißes Gesicht gesehen: das eines Säufers mittleren Alters, der etwas gegessen hatte und dann wieder verschwunden war.
    Ich war sicher, dass mein Lexus inzwischen gestohlen war und ich außerhalb dieses Gebäudes keine fünf Minuten überleben würde. Insgeheim beschloss ich, mich an Mordecai zu halten, ganz gleich, wann und wie er von hier aufbrechen würde.
    »Das ist eine gute Suppe«, erklärte er. »Sie ist jedesmal anders. Es kommt darauf an, welche Zutaten gerade da sind. Außerdem sind die Rezepte verschieden.«
    »Neulich gab’s bei Martha’s Table Nudeln«, sagte der Mann rechts von mir, dessen Ellbogen meiner Schale näher war als mein eigener.
    »Nudeln?« fragte Mordecai mit gespielter Ungläubigkeit. »In der Suppe?« »Ja.
    Ungefähr einmal im Monat gibt’s Nudeln. Aber jetzt wissen’s alle, und darum ist es ganz schön schwer, da noch einen Tisch zu kriegen.«
    Ich wusste nicht, ob er Witze machte oder nicht, aber seine Augen funkelten.
    Dass ein Obdachloser sich darüber beklagte, wie schwer es sei, in seiner Lieblings-Suppenküche einen Tisch zu bekommen, fand ich jedenfalls ziemlich witzig. Wie oft hatte ich von meinen Freunden in Georgetown gehört, wie schwierig es sei, in diesem oder jenem Restaurant einen Tisch zu bekommen?
    Mordecai lächelte. »Wie heißen Sie?« fragte er. Ich sollte noch merken, dass er immer den Namen seines Gegenübers wissen wollte. Die Obdachlosen, denen er sich verschrieben hatte, waren für ihn mehr als Opfer - sie waren so etwas wie seine Angehörigen.
    Auch ich war neugierig. Ich wollte wissen, wie diese Obdachlosen obdachlos geworden waren. Es gab doch ein gut ausgebautes Sozialhilfesystem. Wie konnte es geschehen, dass Amerikaner so arm waren, dass sie unter Brücken leben mussten?
    »Proper«, sagte er und kaute auf einem meiner größeren Selleriestücke.
    »Proper?« fragte Mordecai.
    »Proper«, wiederholte der Mann.
    »Und ihr Nachname?«
    »Ich hab keinen. Zu arm.«
    »Und wer hat Ihnen den Namen Proper gegeben?«
    »Meine Mutter.«
    »Wie alt waren Sie denn da?«
    »Ungefähr fünf.«
    »Und warum Proper?«
    »Wir hatten ein Baby, das einfach nie still war. Hat die ganze Zeit geschrien, so dass keiner schlafen konnte. Da hab ich ihm ein bißchen Meister Proper gegeben.« Er rührte in der Suppe. Es war eine gut einstudierte, gut erzählte Geschichte, und ich glaubte ihm kein Wort. Aber die anderen hörten ihm zu, und Proper schien das zu genießen.
    »Was ist dann passiert?« fragte Mordecai und gab Proper damit das Stichwort.
    »Das Baby ist gestorben.«
    »Das war Ihr Bruder.«
    »Nein, meine Schwester.«

    »Aha. Dann haben Sie also Ihre Schwester umgebracht.«
    »Ja, aber danach konnten wir endlich wieder schlafen.«
    Mordecai zwinkerte mir zu, als habe er solche Geschichten schon oft gehört.
    »Wo leben Sie?« fragte ich Proper.
    »Hier, in Washington, D.C.«
    Mordecai präzisierte meine Frage. »Wo schlafen Sie?«
    »Hier und da. Es gibt jede Menge reiche Ladies, die mir Geld geben, damit ich ihnen Gesellschaft leiste.«
    Die beiden Männer, die rechts von Proper saßen, fanden das komisch. Der eine kicherte, der andere lachte laut.
    »Und wohin lassen Sie sich Ihre Post schicken?« fragte Mordecai.
    »Ans Postamt«, antwortete Proper. Er schien auf jede Frage eine schnelle Antwort parat zu haben. Wir ließen ihn weiteressen.
    Nachdem sie den Herd ausgestellt hatte, machte Miss

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