Der Verrat
nach seiner Post sehe. Ich hatte überhaupt nichts dagegen.
Schließlich gab es für mich ja ohnehin nichts zu tun.
Das Büro war dämmrig, kalt und leer. Er schaltete das Licht an und sagte: »Wir sind zu dritt: Sofia Mendoza, Abraham Lebow und ich. Sofia ist eigentlich Sozialarbeiterin, aber sie versteht mehr vom Sozialrecht als Abraham und ich zusammen.« Ich folgte ihm zwischen den mit Papier übersäten Schreibtischen hindurch. »Früher waren hier sieben Anwälte zusammengepfercht. Können Sie sich das vorstellen? Damals kriegten Rechtsbeistände von Bedürftigen einen Zuschuss vom Staat. Jetzt sind die Republikaner am Ruder, und wir bekommen keinen Cent mehr. Da drüben sind drei Büros, und hier sind noch einmal drei.« Er zeigte in verschiedene Richtungen. »Jede Menge Platz.«
Was zusätzliches Personal betraf, gab es vielleicht genug Platz, doch es war schwer, sich hier zu bewegen, ohne über einen Korb voller Akten oder einen Stoß verstaubter juristischer Fachbücher zu stolpern.
»Wem gehört das Haus?« fragte ich.
»Der Cohen-Stiftung. Leonard Cohen war der Gründer einer großen New Yorker Kanzlei. Er ist 1968 gestorben - muss fast hundert Jahre alt gewesen sein. Er hatte nie etwas anderes getan als Geld zu scheffeln, und gegen Ende seines Lebens beschloss er, dass er nicht mit all diesem Geld sterben wollte. Also hat er es verteilt, und eine seiner zahlreichen Stiftungen ist für Anwälte bestimmt, die Obdachlosen helfen. So ist dieses Büro entstanden. Die Stiftung unterhält drei Büros: in New York, in Newark und hier. Ich wurde 1983
eingestellt und 1984 zum Direktor befördert.«
»Alles Geld stammt aus einer einzigen Quelle?«
»Praktisch alles. Im letzten Jahr hat uns die Stiftung hundertzehntausend Dollar gegeben. Im Jahr davor waren es hundertfünfzigtausend gewesen, also mussten wir einen Anwalt entlassen. Der Betrag wird jedes Jahr kleiner. Die Stiftungsgelder werden nicht gut verwaltet, und jetzt fressen die Kosten langsam das Kapital auf. Ich bezweifle, dass wir in fünf Jahren noch hier sein werden. Vielleicht können wir noch drei Jahre durchhalten.«
»Können Sie nicht anderswo Geld auftreiben?«
»Klar. Letztes Jahr haben wir neuntausend Dollar zusammengekriegt. Aber das kostet Zeit. Entweder wir leisten juristische Hilfe, oder wir versuchen Spenden zu sammeln. Sofia kann nicht gut mit Leuten umgehen. Abraham ist New Yorker, und man weiß ja, wie verbindlich die sind.
Bleiben also nur ich und meine charismatische Persönlichkeit.«
»Wie hoch sind die laufenden Kosten?« Ich war neugierig, fand mich aber nicht aufdringlich. Fast jedes nicht gewinnorientierte Unternehmen legte jährlich einen Bericht vor, in dem alle relevanten Zahlen standen.
»Zweitausend im Monat. Nach Abzug aller Unkosten und einer kleinen Reserve haben wir drei uns neunundachtzigtausend Dollar geteilt. Zu gleichen Teilen. Sofia betrachtet sich als Teilhaberin, und wir haben, ehrlich gesagt, Angst, uns mit ihr zu streiten. Ich habe also fast dreißigtausend Dollar verdient, was, soviel ich weiß, für einen Armenanwalt völlig normal ist. Willkommen auf der Straße.«
Wir hatten endlich sein Büro erreicht. Ich setzte mich ihm gegenüber.
»Haben Sie vergessen, die Heizungsrechnung zu bezahlen?« fragte ich beinahe zitternd.
»Wahrscheinlich. Wir arbeiten nicht oft am Wochenende. Das spart Geld. Dieses Büro lässt sich weder vernünftig heizen noch kühl halten.«
Auf diesen Gedanken war bei Drake & Sweeney noch nie jemand gekommen: Am Wochenende ist die Kanzlei geschlossen - das spart Geld. Und rettet Ehen.
»Und wenn es zu gemütlich ist, bleiben unsere Mandanten einfach hier sitzen.
Darum ist es im Winter kalt und im Sommer heiß - das hält uns die Laufkundschaft vom Hals. Möchten Sie einen Kaffee?«
»Nein, danke.«
»Das war natürlich nur ein Witz. Wir würden nichts tun, was diese Leute davon abhalten würde, zu uns zu kommen. Das Klima macht uns nichts aus. Unsere Mandanten frieren und haben Hunger - warum sollten wir uns also darüber beklagen? Hatten Sie ein schlechtes Gewissen, als Sie heute morgen gefrühstückt haben?«
»Ja.«
Er lächelte mich an wie ein weiser alter Mann, dem nichts fremd ist. »Das ist ganz normal. Früher haben hier eine ganze Menge junger Anwälte aus großen Kanzleien ausgeholfen - ich nenne sie immer >Gratisenthusiasten< -, und alle haben mir erzählt, dass sie als erstes das Interesse am Essen verloren haben.«
Er tätschelte seinen dicken Bauch.
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