Der Verrat
arbeiteten an der Ausgabe, tauchten Kellen in Topfe und füllten Suppe in Plastikschalen. Das war eine regelrechte Kunst: Zuviel Brühe, und der Empfänger runzelte finster die Stirn, zuviel Gemüse, und im Topf würde bald nur noch Brühe sein. Mordecai hatte seine Technik schon vor Jahren perfektioniert, ich dagegen bekam eine Reihe wütender Blicke, bevor ich den Bogen heraus hatte. Mordecai sagte zu jedem, der eine Schüssel Suppe bekam, ein freundliches Wort: Hallo, guten Morgen, wie geht’s, schön, Sie mal wieder zu sehen. Einige lächelten zurück, andere sahen nicht einmal auf.
Als der Mittag näherrückte, stand die Tür nicht mehr still, und die Schlange wurde länger. Weitere Helfer erschienen aus dem Nichts, und in der Küche herrschte die rege Geschäftigkeit gutgelaunter Menschen, die mit Freude bei der Arbeit waren. Ich hielt weiter nach Ontario Ausschau. Der kleine Bursche wusste noch nicht, dass der Weihnachtsmann auf ihn wartete.
Als die Schlange verschwunden war, füllten wir uns selbst je eine Schale. Die Tische waren allesamt besetzt, und so aßen wir in der Küche, im Stehen und an die Spüle gelehnt.
»Erinnern Sie sich an die Windel, die Sie gestern gewechselt haben?« fragte ich Mordecai.
»Wie könnte ich das vergessen?«
»Ich hab die Familie heute noch nicht gesehen.«
Er kaute und dachte einen Augenblick lang nach. »Als ich heute morgen kam, waren sie noch hier.«
»Um wie viel Uhr war das?«
»Um sechs. Sie waren da drüben, in der Ecke, und haben tief geschlafen.«
»Wohin sind sie wohl gegangen?«
»Das kann man nicht wissen.«
»Der kleine Junge hat mir erzählt, dass sie in einem Wagen wohnen.«
»Sie haben mit ihm gesprochen?« »Ja.«
»Und jetzt wollen Sie ihn finden, stimmt’s?« »Ja.«
»Rechnen Sie lieber nicht damit.«
Nach dem Mittagessen brach die Sonne durch die Wolken, und in die Menge kam Bewegung. Einer nach dem anderen ging an der Ausgabe vorbei, nahm sich einen Apfel oder eine Orange und verließ den Keller.
»Obdachlose sind rastlos«, erklärte Mordecai, während wir zusahen. »Sie streifen herum. Sie haben Gewohnheiten und Rituale, sie haben Lieblingsplätze, Freunde und Dinge, die sie erledigen wollen. Sie gehen wieder in ihre Parks und Gassen und suchen sich ein schneefreies Fleckchen.«
»Draußen sind es minus fünf Grad. Gestern nacht waren es minus zwanzig.«
»Sie kommen wieder. Warten Sie, bis es dunkel wird, dann ist es hier wieder brechend voll. Kommen Sie - wir fahren ein bißchen herum.«
Wir sagten Miss Dolly Bescheid, die uns für eine Weile beurlaubte. Mordecais ziemlich mitgenommener Ford Taurus stand neben meinem Lexus. »Der wird hier nicht alt werden«, sagte er und zeigte auf meinen Wagen. »Wenn Sie vorhaben, einen Teil Ihrer Zeit in dieser Gegend zu verbringen, würde ich Ihnen empfehlen, sich was Billigeres zu suchen.«
Nicht im Traum würde ich mich von meinem wunderschönen Wagen trennen. Ich war beinahe beleidigt.
Wir stiegen in seinen Taurus und fuhren aus der Parklücke. Schon nach wenigen Sekunden war mir klar, dass Mordecai ein entsetzlicher Fahrer war. Ich wollte den Sicherheitsgurt anlegen, doch das Schloss funktionierte nicht. Mordecai schien es nicht zu bemerken.
Wir fuhren durch die gut geräumten Straßen von Northwest, vorbei an Blocks von Mietshäusern, die mit Brettern vernagelt waren, an Sozialsiedlungen, die so verrufen waren, dass Krankenwagenfahrer sich weigerten, hierher zu kommen, an Schulen, deren Zäune von Stacheldraht gekrönt waren, durch Gegenden, in denen Unruhen unauslöschliche Narben hinterlassen hatten. Mordecai war ein beeindruckender Führer. Hier gehörte jeder Quadratzentimeter zu seinem Revier, jede Ecke, jede Straße hatte eine Geschichte zu erzählen. Wir kamen an anderen Notunterkünften und Suppenküchen vorbei. Er kannte die Köchinnen und die Pfarrer. Die Kirchen waren entweder gut oder schlecht - Zwischentöne gab es nicht. Entweder öffneten sie den Obdachlosen ihre Türen oder sie hielten sie verschlossen. Er zeigte mir die Law School in Howard, einen Ort, der ihn mit immensem Stolz erfüllte. Sein Studium hatte fünf Jahre gedauert. Er hatte abends gelernt und außerdem einen Voll- und einen Teilzeitjob gehabt. Er zeigte mir ein ausgebranntes Mietshaus, in dem früher Crack verkauft worden war. Sein dritter Sohn Cassius war auf dem Bürgersteig vor dem Haus gestorben.
Als wir in der Nähe seines Büros waren, fragte er mich, ob ich etwas dagegen hätte, wenn er kurz
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