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Der Verrat

Der Verrat

Titel: Der Verrat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Grisham
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nachdem er mein Büro verlassen hatte, seinen Bericht abfassen. Sollte es mir gelingen, sein Herz zu rühren, würde der Bericht wohlwollend ausfallen, und die Herren dort oben würden sich wieder entspannen. Für eine kurze Zeit würde das Leben leichter sein.
    »Sie hätten anrufen sollen«, sagte er, noch immer hart, doch es zeigten sich bereits die ersten Sprünge.
    »Ich bitte Sie, Rudolph. Ich war völlig abgeschnitten. Kein Telefon.« In meiner Stimme lag etwas Gequältes, das ihn rühren würde.
    Nach einer langen Pause sagte er: »Fühlen Sie sich wieder gut?«
    »Ja.«
    »Es geht Ihnen gut?«
    »Der Psychiater hat gesagt, es geht mir gut.«
    »Hundert Prozent?«
    »Hundertzehn Prozent. Kein Problem, Rudolph. Ich hab bloß ein paar Tage ausspannen müssen, das ist alles. Mir geht’s gut. Ich bin wieder voll da.«
    Das war alles, was Rudolph hören wollte. Er lächelte, entspannte sich und sagte:
    »Wir haben viel zu tun.« n
    »Ich weiß. Ich kann’s kaum erwarten.«
    Er rannte praktisch aus meinem Büro. Wahrscheinlich würde er gleich zum Telefon greifen und melden, dass eine der vielen Produktivkräfte der Kanzlei wieder auf dem Posten war.
    Ich schloss die Tür, schaltete das Licht aus und verbrachte eine qualvolle Stunde damit, meinen Schreibtisch mit beschriebenem Papier zu bedecken. Es kam zwar nichts dabei heraus, aber ich leistete honorarfähige Arbeit.
    Als ich es nicht mehr aushielt, stopfte ich die Telefonnotizen in meine Jackentasche und ging hinaus. Ich konnte ungesehen entkommen.
    Ich hielt an einer großen Discount-Drogerie an der Massachusetts Avenue und gab mich einem angenehmen Kaufrausch hin: Schokolade und kleine Spielzeuge für die Kinder, Seife und Toilettenartikel für alle, Strümpfe und Jogginghosen in verschiedenen Kindergrößen, eine große Packung Windeln. Ich hatte noch nie soviel Spaß daran gehabt, zweihundert Dollar auszugeben.
    Und ich würde auch das nötige Geld ausgeben, um ihnen einen warmen, trockenen Platz zu verschaffen. Wenn sie für einen Monat in ein Motel ziehen mussten -
    kein Problem. Sie würden bald meine Mandanten sein, und ich würde mit Freuden so lange drohen und prozessieren, bis sie eine angemessene Wohnung hatten. Ich konnte es kaum erwarten, jemanden zu verklagen.
    Ich parkte gegenüber der Kirche und hatte weniger Angst als in der Nacht zuvor, war aber auf der Hut. Es erschien mir klüger, meine Geschenkpakete im Wagen zu lassen. Wenn ich hier auftrat wie der Weihnachtsmann, würde es einen Tumult geben. Ich wollte die Familie abholen, in ein Motel fahren, dafür sorgen, dass alle gewaschen und entlaust wurden, sie mit Essen voll stopfen und auf Krankheiten untersuchen lassen, vielleicht Schuhe und warme Kleider für sie kaufen und ihnen dann wieder etwas zu essen vorsetzen, und es spielte keine Rolle, wie lange es dauern und wie viel es kosten würde.
    Ebenso wenig wie es eine Rolle spielte, ob die Leute dachten, ich sei bloß irgendein reicher Weißer, der versuchte sein Gewissen ein bißchen zu besänftigen.
    Miss Dolly freute sich, mich zu sehen. Sie begrüßte mich und zeigte auf einen Haufen Gemüse, das geputzt werden musste. Bevor ich mich an die Arbeit machte, sah ich mich nach Ontario und seiner Familie um, konnte sie aber nirgends entdecken. Sie waren nicht an ihrem Platz. Ich suchte den ganzen Keller ab und stieg über Dutzende von Obdachlosen hinweg. Auch im Kirchenraum und auf der Empore sah ich sie nicht.
    Während ich Kartoffeln schälte, unterhielt ich mich mit Miss Dolly. Sie erinnerte sich an die Familie von gestern nacht, sagte aber, als sie heute gegen neun Uhr gekommen sei, seien sie schon nicht mehr hier gewesen.
    »Wohin könnten sie gegangen sein?« fragte ich sie.
    »Mein Lieber, diese Leute sind ständig in Bewegung. Sie gehen von Suppenküche zu Suppenküche, von Notunterkunft zu Notunterkunft. Vielleicht hat die Mutter gehört, dass es drüben in Brightwood heute Käse gibt, oder irgendwo anders Decken. Vielleicht hat sie sogar einen Job bei McDonald’s und lässt die Kinder bei ihrer Schwester. Man kann es nicht wissen. Aber sie bleiben nie lange an einem Ort.«
    Ich bezweifelte sehr, dass Ontarios Mutter einen Job hatte, aber das wollte ich nicht mit Miss Dolly in ihrer Küche diskutieren.
    Als sich die Schlange für das Mittagessen bildete, erschien Mordecai. Ich sah ihn, bevor er mich bemerkte, und als sein Blick auf mich fiel, strahlte er über das ganze Gesicht.
    Ein neuer Helfer schmierte Brote; Mordecai und ich

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