Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Verrat

Der Verrat

Titel: Der Verrat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Grisham
Vom Netzwerk:
»Aber das geht vorbei.«
    »Was haben diese Gratisenthusiasten gemacht?« fragte ich. Ich wusste, dass ich mich dem Köder näherte, und Mordecai wusste, dass ich es wusste.
    »Wir haben sie in die Notunterkünfte geschickt. Sie haben mit den Mandanten gesprochen, und wir haben die Supervision der Fälle übernommen. Die meisten sind einfach: Der Anwalt ruft irgendeinen schwerfälligen Bürokraten an und macht ihm Beine. Da geht es um Lebensmittelmarken, Veteranenpensionen, Mietzuschüsse, medizinische Versorgung, Beihilfen für Kinder, und so weiter. Ein Viertel unserer Arbeit hat mit Beihilfen zu tun.«
    Ich hörte aufmerksam zu. Mordecai konnte offenbar meine Gedanken lesen und begann, die Schnur einzuholen.
    »Die Obdachlosen haben keine Stimme. Niemand hört ihnen zu, niemand kümmert sich um sie, und sie erwarten auch gar keine Hilfe. Wenn sie also versuchen, ihren Anspruch telefonisch durchzusetzen, kommen sie nicht weit. Sie landen in der Warteschleife, und da bleiben sie dann. Niemand ruft zurück. Sie haben keine Adresse. Den Bürokraten sind sie egal - die schikanieren die Menschen, denen sie eigentlich helfen sollten. Ein erfahrener Sozialarbeiter kann so einen Beamten wenigstens dazu bringen, dass er zuhört, mal einen Blick in die Akten wirft und einen Telefonanruf macht. Aber sobald ein Anwalt am Apparat ist, der laut wird und diesem Burschen die Hölle heiß macht, passiert plötzlich was. Der Beamte ist motiviert, Akten werden bearbeitet. Die Adresse fehlt? Kein Problem -
    schicken Sie den Scheck an mich, und ich leite ihn an meinen Mandanten weiter.«
    Er sprach lauter und gestikulierte mit beiden Händen. Offenbar war Mordecai der geborene Geschichtenerzähler. Ich hatte den Verdacht, dass er es verstand, Geschworene sehr wirkungsvoll zu bearbeiten.
    »Eine komische Geschichte«, sagte er. »Vor ungefähr einem Monat ging einer meiner Mandanten zum Sozialamt, um sich einen Antrag für eine Unterstützung zu holen. Eigentlich eine Routinesache. Er ist sechzig Jahre alt und hat chronische Rückenschmerzen. Wenn man zehn Jahre lang auf Parkbänken und Steinböden schläft, kriegt man die. Er musste zwei Stunden vor der Tür stehen.
    Drinnen musste er noch einmal eine Stunde warten. Schließlich wurde er aufgerufen. Er versuchte, der Beamtin zu erklären, was er wollte, und wurde von der Frau, die anscheinend einen schlechten Tag hatte, auf übelste Weise abgekanzelt. Sie machte auch eine Bemerkung über seinen Körpergeruch. Er war natürlich gedemütigt und ging ohne seinen Antrag. Dann rief er mich an. Ich machte ein paar Telefonanrufe, und letzten Mittwoch gab es dann im Sozialamt eine nette kleine Zeremonie. Mein Mandant und ich waren da. Die Beamtin war da, ihr Vorgesetzter und der Vorgesetzte ihres Vorgesetzten waren da, der Leiter des Washingtoner Sozialamtes und ein großes Tier vom Sozialministerium waren ebenfalls da. Die Beamtin stand vor meinem Mandanten und las ihm eine lange Entschuldigung vor. Es war sehr schön, richtig rührend. Dann gab sie meinem Mandanten den Antrag, und alle Anwesenden versicherten, dass dieser sogleich bearbeitet werden würde. Das ist Gerechtigkeit, Michael, das ist es, was ein Armenanwalt bewirken kann. Die Achtung der Menschenwürde.«
    Es folgten noch mehr Geschichten, eine nach der anderen, und in allen war der Armenanwalt der Held, und seine Mandanten trugen den Sieg davon. Ich wusste, dass zu seinem Repertoire mindestens ebenso viele, vielleicht sogar noch mehr herzzerreißende Geschichten gehörten, aber im Augenblick leistete er nur die Vorarbeit.
    Ich achtete nicht auf die Zeit. Er erwähnte seine Post mit keinem Wort.
    Schließlich gingen wir wieder hinaus und fuhren zur Notunterkunft.
    In einer Stunde würde es dunkel sein - eine gute Zeit, fand ich, um sich in dem gemütlichen Kirchenkeller zu verkriechen, bevor finstere Gestalten die Straßen unsicher machten. Ich stellte fest, dass ich in Mordecais Gesellschaft langsam und sorglos ging. Wäre ich allein gewesen, dann wäre ich vornübergebeugt durch den Schnee gestapft, mit schnellen, nervösen Schritten.
    Miss Dolly hatte irgendwo einen ganzen Berg Suppenhühner aufgetrieben und wartete bereits auf mich. Sie kochte die Hühner, und ich zerlegte sie.
    Mordecais Frau Joanne half uns, als der Andrang am größten war. Sie war ebenso freundlich wie ihr Mann und hatte beinahe seine Statur. Beide Söhne waren über zwei Meter groß. Cassius war zwei Meter zehn groß gewesen, ein heftig umworbener

Weitere Kostenlose Bücher