Der Verrat
zu. Wir stellten gerade eine Liste der Dinge zusammen, die sofort erledigt werden mussten, als Braden Chance sich an einen Tisch in unserer Nähe setzte. Zunächst bemerkte er mich nicht. Etwa ein Dutzend anderer Teilhaber frühstückten hier, die meisten allein und in Zeitungen vertieft. Ich versuchte, ihn zu ignorieren, aber schließlich sah ich zu ihm hinüber und merkte, dass er mich wütend anstarrte.
»Guten Morgen, Braden«, sagte ich so laut, dass er zusammenzuckte und Rudolph sich umdrehte, um zu sehen, wen ich begrüßte.
Chance nickte, sagte aber nichts und war plötzlich sehr mit seinem Toast beschäftigt.
»Kennen Sie ihn?« fragte Rudolph leise.
»Flüchtig«, antwortete ich. Bei unserer kurzen Begegnung in seinem Büro hatte er mich nach meinem leitenden
Teilhaber gefragt, und ich hatte Rudolphs Namen genannt. Offenbar hatte er sich nicht über mich beschwert.
»Ein Idiot«, sagte Rudolph kaum hörbar. Das war anscheinend das einhellige Urteil. Er blätterte in seinem Notizbuch und würdigte Chance keines Gedankens mehr. Auf meinem Schreibtisch lag eine Menge unerledigte Arbeit.
Ich dagegen stellte fest, dass mir Chance und seine Unterlagen über die Zwangsräumung nicht mehr aus dem Kopf gingen. Er machte einen weichlichen Eindruck: Seine Haut war blass, er hatte ein zartes Gesicht, und seine Gesten wirkten gekünstelt. Ich konnte ihn mir nicht auf der Straße vorstellen, wie er verlassene Lagerhäuser voller Obdachloser in Augenschein nahm, sich die Hände schmutzig machte, um sich zu vergewissern, dass seine Arbeit gründlich erledigt wurde. Natürlich brauchte er das auch nicht zu tun - dafür gab es schließlich Gehilfen. Chance saß am Schreibtisch, erledigte den Papierkram und berechnete ein paar hundert Dollar pro Stunde, während die Hector Palmas sich um die unappetitlichen Einzelheiten kümmerten. Chance ging mit den Direktoren von RiverOaks zum Essen und spielte mit ihnen Golf. Das war seine Aufgabe als Teilhaber.
Er kannte wahrscheinlich nicht einmal die Namen derer, die aus dem Lagerhaus vertrieben worden waren, und warum sollte er auch? Es waren bloß Hausbesetzer -
namenlos, gesichtslos, obdachlos. Er war nicht dabei gewesen, als die Polizisten sie aus ihren improvisierten Wohnungen gezerrt und auf die Straße gesetzt hatten. Hector Palma dagegen hatte es vermutlich gesehen.
Und solange Chance die Namen von Lontae Burton und ihren Kindern nicht kannte, konnte er auch keine Verbindung zwischen der Zwangsräumung und ihrem Tod sehen.
Aber vielleicht sah er sie inzwischen. Vielleicht hatte es ihm jemand erzählt.
Die Antwort auf diese Fragen würde Hector Palma mir bald geben müssen. Heute war Mittwoch. Freitag war mein letzter Tag.
Rudolph beendete unser Frühstück um acht, gerade rechtzeitig für eine Besprechung mit sehr wichtigen Leuten. Ich setzte mich an den Schreibtisch und las die Washington Post. Im Lokalteil waren ein herzzerreißendes Foto der fünf geschlossenen Särge in der Kirche und ein ausführlicher Artikel über den Gottesdienst und die anschließende Demonstration.
Außerdem brachte die Post einen Kommentar, einen gut geschriebenen Appell an alle, die ein Dach über dem Kopf und genug zu essen hatten, über die vielen Lontae Burtons in unserer Stadt nachzudenken. Sie würden nicht einfach verschwinden. Man konnte sie nicht einsammeln und an irgendeinem entlegenen Ort aussetzen, wo man sie nicht sehen würde. Sie lebten in Autos, hausten in Hütten und froren in improvisierten Zelten, sie schliefen auf Parkbänken und standen Schlange für ein Bett in einer der überfüllten und manchmal gefährlichen Notunterkünfte. Sie lebten in derselben Stadt wie wir, sie gehörten zu unserer Gesellschaft. Wenn wir ihnen nicht halfen, würde ihre Zahl sich vervielfachen.
Und sie würden weiterhin auf den Straßen unserer Stadt sterben.
Ich schnitt den Kommentar aus, faltete ihn zusammen und steckte ihn in die Brieftasche.
Über andere Gehilfen gelang es mir, ein Treffen mit Palma zu vereinbaren. Es wäre unklug gewesen, ihn offen anzusprechen - Chance lag vermutlich auf der Lauer.
Wir trafen uns in der Hauptbibliothek in der zweiten Etage zwischen Bücherregalen, weit entfernt von Überwachungskameras und neugierigen Blicken.
Er war extrem nervös.
»Haben Sie mir den Aktendeckel auf den Tisch gelegt?« fragte ich ihn geradeheraus. Wir hatten keine Zeit für langwierige Eröffnungen.
»Was für einen Aktendeckel?« erwiderte er und warf gehetzte Blicke in
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