Der Verrat
alle Richtungen, als wären Scharfschützen dabei, uns ins Visier zu nehmen.
»Die Zwangsräumung für RiverOaks/TAG. Sie waren damit befasst, stimmt’s?«
Er war sich nicht sicher, wie viel oder wie wenig ich wusste. »Ja«, sagte er.
»Wo ist die Akte?«
Er zog ein Buch aus dem Regal und tat so, als vertiefte er sich darin. »Chance hat alle Akten unter Verschluss.«
»In seinem Büro?«
»Ja. In einem verschlossenen Aktenschrank.« Wir sprachen im Flüsterton. Ich war vor diesem Treffen nicht nervös gewesen, doch nun ertappte ich mich dabei, dass ich mich prüfend umsah. Jeder, der uns beobachtete, würde sofort wissen, dass hier irgendwelche Heimlichkeiten vor sich gingen.
»Was steht in der Akte?« fragte ich.
»Schlimme Sachen.«
»Zum Beispiel?«
»Ich habe eine Frau und vier Kinder, und ich Will meinen Job behalten.«
»Sie haben mein Wort.«
»Sie gehen bald. Ihnen kann’s egal sein.«
Gerüchte sprachen sich schnell herum. Ich war nicht überrascht. Schon oft hatte ich mich gefragt, wer wohl die größten Klatschmäuler waren - die Anwälte oder die Sekretärinnen. Wahrscheinlich die Anwaltsgehilfen.
»Warum haben Sie mir die Liste auf den Tisch gelegt?« fragte ich.
Er griff nach einem anderen Buch, und seine rechte Hand zitterte sichtlich. »Ich weiß nicht, wovon Sie reden.«
Er blätterte in dem Buch und ging zum Ende des Regals.
Ich folgte ihm und überzeugte mich, dass wir allein waren. Er blieb stehen und suchte noch ein Buch heraus; offenbar wollte er das Gespräch nicht abbrechen.
»Ich brauche die Akte«, sagte ich.
»Ich hab sie nicht.«
»Wie kann ich sie bekommen?«
»Sie werden sie klauen müssen.«
»Gut. Wo ist der Schlüssel.«
Er musterte mein Gesicht und versuchte herauszufinden, wie ernst ich es meinte.
»Ich habe keinen Schlüssel«, sagte er.
»Wie sind Sie dann an die Liste gekommen?«
»Ich weiß nicht, wovon Sie reden.«
»Doch, Sie wissen es. Sie haben sie mir auf den Schreibtisch gelegt.«
»Sie sind verrückt«, sagte er und ließ mich stehen. Ich sah ihm nach: Diesmal hielt er nirgends an, sondern ging an den Regalen, an den mit Büchern beladenen Lesetischen und der Ausleihe vorbei zum Ausgang und verschwand.
Ganz gleich, was ich Rudolph glauben gemacht hatte - ich hatte nicht die Absicht, in meinen letzten drei Tagen in der Kanzlei bis zur Erschöpfung zu arbeiten. Statt dessen breitete ich Unterlagen zu verschiedenen Kartellfällen auf meinem Tisch aus, schloss die Tür, sah die Wand an und lächelte bei dem Gedanken an das, was ich hinter mir ließ. Mit jedem Atemzug ließ der Druck nach.
Ich würde nicht mehr mit der Stoppuhr um den Hals arbeiten. Ich würde nicht mehr achtzig Stunden pro Woche schuften, nur weil meine ehrgeizigen Kollegen fünfundachtzig herunterrissen. Ich würde keine Vorgesetzten mehr umschmeicheln.
Ich würde keine Alpträume mehr haben, in denen mir die Teilhaberschaft verweigert wurde.
Ich rief Mordecai an und nahm die Stelle an. Er lachte und machte Witze darüber, dass wir nun nur noch einen Weg finden müssten, mich zu bezahlen. Ich sollte am Montag anfangen, aber er bat mich, schon vorher vorbeizukommen, damit er mich kurz einweisen könne. Ich dachte an die Räumlichkeiten des Rechtsberatungsbüros in der 14th Street und fragte mich, welches der unbenutzten, vollgestellten Zimmer ich bekommen würde. Als gäbe es da Unterschiede.
Den späten Nachmittag verbrachte ich hauptsächlich damit, mir von Freunden und Kollegen, die überzeugt waren, dass ich den Verstand verloren hatte, ernst die Hand schütteln zu lassen.
Ich trug es mit Fassung. Schließlich war ich dabei, ein Heiliger zu werden.
Inzwischen suchte meine Frau den Rat einer Scheidungsanwältin, die in dem Ruf stand, aus den Ehemännern ihrer Mandantinnen erbarmungslos das Äußerste herauszupressen.
Claire erwartete mich in der Küche, als ich gegen sechs, also recht früh, nach Hause kam. Der Küchentisch war mit Notizzetteln und Computerausdrucken bedeckt.
Ein Taschenrechner lag bereit. Sie war kühl und gut vorbereitet. Diesmal lief ich in einen Hinterhalt.
»Ich schlage vor, wir lassen uns wegen unüberbrückbarer Differenzen scheiden«, begann sie freundlich. »Wir streiten uns nicht. Wir waschen keine schmutzige Wäsche. Wir gestehen uns ein, was wir uns bisher nicht eingestanden haben: dass unsere Ehe vorbei ist.«
Sie hielt inne und wartete darauf, dass ich etwas sagte. Ich konnte nicht so tun, als wäre ich überrascht. Sie hatte sich
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