Der Verrat
einwilligen?« »Darüber haben wir noch nicht gesprochen.« Sie war vor einem Jahr ausgezogen, und das klang für mich nach einem klaren Fall von böswilligem Verlassen. Der Ehebruch kam noch hinzu. Meiner Meinung nach war der Fall schon so gut wie gewonnen.
Marvis war seit einer Woche hier. Er nahm keine Drogen, war nüchtern und suchte Arbeit. Ich genoss die halbe
Stunde, die unser Gespräch dauerte, und schwor mir, seine Scheidung durchzusetzen.
Der Morgen verging schnell, und meine Nervosität verschwand. Ich half Menschen mit echten Problemen, armen Menschen, die keine andere Möglichkeit hatten, juristischen Beistand zu bekommen. Sie hatten nicht nur vor mir Ehrfurcht, sondern auch vor der riesigen Welt der Gesetze und Verordnungen, der Gerichte und Behörden. Ich lernte zu lächeln und ihnen das Gefühl zu vermitteln, willkommen zu sein. Manche entschuldigten sich dafür, dass sie nicht imstande waren, mich zu bezahlen. Geld sei nicht wichtig, sagte ich ihnen. Geld war nicht wichtig.
Um zwölf gaben wir den Tisch frei, damit das Mittagessen serviert werden konnte. An der Ausgabe stand eine Schlange. Die Suppe war fertig.
Da wir ohnehin in der Gegend waren, hielten wir am Florida Avenue Grill, wo es karibisches Essen gab. Ich war der einzige Weiße in dem gut besetzten Restaurant, doch mit diesem Umstand kam ich immer besser zurecht. Bis jetzt hatte noch niemand versucht, mich zu ermorden. Ob ich weiß war oder nicht, schien keinen zu kümmern.
Sofia trieb einen funktionierenden Telefonapparat für mich auf. Er befand sich unter einem Stapel Akten auf dem Tisch bei der Tür. Ich dankte ihr und zog mich in mein Büro zurück. Acht Leute warteten still und geduldig darauf, dass Sofia, die keine Rechtsanwältin war, ihnen juristische Ratschläge gab. Mordecai schlug vor, ich solle mir am Nachmittag die Fälle vornehmen, die wir morgens im Samaritan House angenommen hatten. Es waren insgesamt neunzehn. Er legte mir auch nahe, zügig zu arbeiten, damit ich Sofia helfen konnte.
Wenn ich gedacht hatte, das Arbeitspensum eines Armenanwalts würde kleiner sein, so hatte ich mich getäuscht. Mit einemmal steckte ich bis zum Hals in den Problemen anderer Leute. Als eingefleischter Arbeitssüchtiger war ich dieser Aufgabe jedoch glücklicherweise gewachsen.
Mein erster Anruf ging allerdings an Drake & Sweeney. Ich fragte nach Hector Palma in der Immobilienabteilung und kam in die Warteschleife. Nach fünf Minuten legte ich auf und versuchte es erneut. Schließlich bekam ich eine Sekretärin an den Apparat, die mich jedoch abermals warten ließ. Unvermittelt bellte Braden Chances rauhe Stimme in mein Ohr. »Kann ich Ihnen helfen?«
Ich schluckte und sagte: »Ja, ich versuche, Hector Palma zu erreichen.« Ich sprach mit hoher Stimme und verschliff die Worte.
»Und wer sind Sie?« wollte er wissen.
»Rick Hamilton. Ich bin ein alter Schulfreund von Hector.«
»Tut mir leid, er arbeitet nicht mehr hier.« Chance legte auf, und ich starrte das Telefon an und überlegte, ob ich Polly anrufen und sie bitten sollte, sich mal umzuhören, was aus Hector geworden war. Es würde nicht lange dauern, bis sie es in Erfahrung gebracht hatte. Ich konnte auch Rudolph anrufen oder Barry Nuzzo oder meinen ehemaligen Gehilfen. Doch dann wurde mir bewusst, dass sie nicht mehr meine Freunde waren. Ich war draußen. Ich war gesperrt. Ich war der Feind. Ich hatte Ärger gemacht, und die Großmächtigen hatten verboten, mit mir auch nur zu sprechen.
Im Telefonbuch standen drei Hector Palmas. Ich wollte sie anrufen, aber die Leitungen waren besetzt. Das Rechtsberatungsbüro hatte zwei Leitungen, aber vier Mitarbeiter.
NEUNZEHN
Am Ende meines ersten Arbeitstages hatte ich es nicht sehr eilig, das Büro zu verlassen. Mein Zuhause war eine leere Mansardenwohnung, nicht größer als drei Kammern im Samaritan House. Mein Zuhause war ein Schlafzimmer ohne Bett, ein Wohnzimmer mit einem Fernseher ohne Kabelanschluss und eine Küche mit einem Klapptisch und ohne Kühlschrank. Ich hatte unbestimmte und nicht sehr dringliche Pläne, die Wohnung zu renovieren und einzurichten.
Sofia ging pünktlich um fünf, wie immer. Die Gegend, in der sie wohnte, war gefährlich, und darum wollte sie bei Einbruch der Dunkelheit zu Hause und hinter verschlossenen Türen sein. Mordecai ging um sechs, nachdem er mit mir eine halbe Stunde lang die Fälle des heutigen Tages besprochen hatte. »Bleiben Sie nicht zu lange«, warnte er mich, »und gehen Sie am
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