Der Verrat
Er war intelligent und begeisterungsfähig und verfügte über einen enormen Wortschatz.
»Zweierlei. Politisches Zeug. Ich arbeite mit anderen Anwälten zusammen, um Einfluss auf die Gesetzgebung zu nehmen. Und ich dirigiere Verfahren, hauptsächlich Sammelklagen. Wir haben das Wirtschaftsministerium verklagt, weil die Obdachlosen bei der Volkszählung 1990 krass unterrepräsentiert waren. Wir haben die Schulbehörde von Washington verklagt, weil sie obdachlose Kinder nicht zum Unterricht zulassen wollte. Wir haben eine Sammelklage eingereicht, weil die Stadtverwaltung mehrere tausend Wohnzuschüsse ohne die erforderliche Anhörung gestrichen hat. Wir sind gegen viele der Verordnungen angegangen, mit denen die Obdachlosigkeit kriminalisiert werden soll. Wenn Obdachlose benachteiligt werden, gehen wir auf die Barrikaden.«
»Das sind ziemlich komplizierte Verfahren.«
»Stimmt, aber glücklicherweise gibt es hier in Washington viele sehr gute Anwälte, die bereit sind, uns ihre Zeit zur Verfügung zu stellen. Ich bin der Trainer. Ich entwerfe die Taktik, mache die Mannschaftsaufstellung und betreue das Spiel.«
»Sie sprechen nicht mit den Mandanten?«
»Nur gelegentlich. Ich bin am besten, wenn ich allein in meinem kleinen Büro da drüben sitzen kann. Darum freue ich mich auch so, dass Sie hier sind. Wir brauchen Verstärkung für die Laufkundschaft.«
Er sprang auf - die Unterhaltung war vorüber. Wir verabredeten, um Punkt neun Uhr zu gehen, und schon war er
wieder draußen. Während einer seiner Reden war mir aufgefallen, dass er keinen Ehering trug.
Er hatte sein Leben dem Kampf um Gerechtigkeit verschrieben. Das alte Bonmot, dass die Juristerei eine eifersüchtige Geliebte sei, hatte durch Leute wie Abraham und mich eine neue Dimension bekommen.
Die Juristerei war alles, was wir hatten.
Die Polizei wartete bis ein Uhr morgens und schlug dann in einer rollkommandoartigen Aktion zu. Die Beamten läuteten und begannen unmittelbar danach, mit den Fäusten an die Tür zu hämmern. Als Claire sich gefaßt und einen Bademantel angezogen hatte, bearbeiteten sie die Tür bereits mit den Füßen und waren drauf und dran, sie einzutreten. »Polizei!« schrien sie, als Claire ängstlich fragte, wer da sei. Sie öffnete langsam die Tür und wich entsetzt zurück, als vier Männer - zwei Uniformierte, zwei in Zivil - hereinstürmten, als stünden Menschenleben auf dem Spiel.
»Zurück an die Wand!« fuhr einer der Männer sie an. Sie brachte kein Wort heraus.
»Zurück an die Wand!« schrie er sie an.
Sie knallten die Tür hinter sich zu. Der Einsatzleiter trug einen billigen, eng sitzenden Anzug und hieß Lieutenant Gasko. Er trat vor und zog ein paar zusammengefaltete Formulare aus der Tasche. »Sind Sie Claire Brock?« fragte er in schlechtestem Columbo-Stil.
Sie stand mit offenem Mund da und nickte nur.
»Ich bin Lieutenant Gasko. Wo ist Michael Brock?«
»Er wohnt nicht mehr hier«, brachte sie heraus. Die anderen drei standen da, als wären sie drauf und dran, sich auf irgend etwas zu stürzen.
Gasko glaubte ihr kein Wort, doch er war nicht gekommen, um mich zu verhaften, sondern um die Wohnung zu durchsuchen. »Ich habe einen Durchsuchungsbefehl für diese Wohnung, ausgestellt um siebzehn Uhr von Richter Kisner.« Er entfaltete die Formulare und hielt sie ihr hin, als wäre dies der geeignete Augenblick, um das Kleingedruckte zu lesen und zu verstehen.
»Treten Sie bitte zurück«, sagte er. Claire trat noch weiter zurück.
»Wonach suchen Sie eigentlich?« fragte sie.
»Steht alles da drin«, antwortete Gasko und warf die Papiere auf die Küchentheke. Die vier Männer schwärmten in der Wohnung aus.
Das Handy lag neben meinem Kopf, und der lag auf dem Kissen, das ich am Kopfende des Schlafsacks auf den Boden gelegt hatte. Es war meine dritte Nacht auf dem Fußboden - ich versuchte, mich in das Leben meiner Mandanten einzufühlen. Ich aß wenig, schlief noch weniger und sah Parkbänke und Bürgersteige mit neuen Augen. Die linke Körperhälfte war bis hinunter zum Knie grün und blau und schmerzte, weswegen ich auf der rechten Seite schlief.
Der Preis erschien mir nicht zu hoch. Ich hatte ein Dach über dem Kopf, ich hatte einen Job und die Gewissheit, dass ich auch morgen satt werden würde. Ich hatte eine Zukunft.
Ich tastete nach dem Handy und sagte: »Ja?«
»Michael!« zischte Claire im Flüsterton. »Die Polizei ist hier und durchsucht die Wohnung.«
»Was?«
»Die Polizei ist hier.
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