Der Verrat
las ich mir den Durchsuchungsbefehl durch. Claire saß am Küchentisch, nippte an ihrem Kaffee und sah mir zu. Sie hatte den Schock überwunden und war wieder sehr zurückhaltend, ja eisig. Sie würde nicht zugeben, dass sie Angst gehabt hatte, sie würde es nicht wagen, auch nur ein bißchen Verletzlichkeit zu zeigen, und ganz gewiß würde sie mir nicht den Eindruck vermitteln, dass sie irgendeine Art von Hilfe brauchte.
»Was steht in der Akte?« fragte sie.
Sie wollte es eigentlich gar nicht wissen. Claire wollte lediglich die Zusicherung, dass so etwas nicht noch einmal vorkommen würde.
»Das ist eine lange Geschichte«, sagte ich. Mit anderen Worten: Frag lieber nicht. Sie verstand.
»Willst du sie wirklich verklagen?«
»Nein. Ich habe keine Handhabe für eine Klage. Ich wollte sie nur loswerden.«
»Es hat funktioniert. Werden sie noch einmal kommen?«
»Nein.«
»Das freut mich zu hören.«
Ich faltete den Durchsuchungsbefehl zusammen und steckte ihn in die Tasche. Er betraf nur einen Gegenstand: Die RiverOaks/TAG-Akte, die sich jetzt, zusammen mit einer Kopie, in einer Zwischenwand meiner neuen Wohnung befand.
»Hast du ihnen gesagt, wo ich wohne?« fragte ich Claire.
»Ich weiß nicht, wo du wohnst«, antwortete sie. Dann trat eine Pause ein, in der sie mich danach hätte fragen können. Sie tat es nicht.
»Es tut mir sehr leid, Claire.«
»Schon gut. Versprich mir nur, dass es nicht noch einmal vorkommt.«
»Ich verspreche es.«
Wir verabschiedeten uns ohne Umarmung, ohne Kuss, ohne irgendeine Berührung. Ich sagte einfach: »Gute Nacht«, und ging hinaus. Das war genau das, was sie wollte.
ZWANZIG
Dienstag war Beratungstag bei der Community for Creative Non-Violence, die die bei weitem größte Notunterkunft der Stadt unterhielt. Auch diesmal setzte sich Mordecai ans Steuer. Er hatte vor, mich während meiner ersten Woche zu begleiten und dann auf die Stadt loszulassen.
Meine Drohungen und Mahnungen waren auf taube Ohren gestoßen. Drake & Sweeney wollte die Sache offenbar nicht gütlich regeln, und das überraschte mich nicht.
Die Durchsuchung meiner ehemaligen Wohnung in den frühen Morgenstunden war eine unfreundliche Warnung vor dem, was noch kommen würde. Ich musste Mordecai sagen, was ich getan hatte.
Als wir im Wagen saßen und losfuhren, sagte ich: »Meine Frau und ich haben uns getrennt. Ich bin ausgezogen.«
Um acht Uhr morgens war der arme Kerl noch nicht auf so düstere Neuigkeiten eingestellt. »Das tut mir leid«, sagte er, sah mich an und hätte um ein Haar einen unvorsichtigen Fußgänger überfahren.
»Braucht es aber nicht. Heute in den frühen Morgenstunden war die Polizei in meiner ehemaligen Wohnung und hat nach mir und besonders nach einer Akte gesucht, die ich aus der Kanzlei mitgenommen habe.«
»Was für eine Akte?«
»Die Devon-Hardy-und Lontae-Burton-Akte.«
»Ich bin ganz Ohr.«
»Wie wir inzwischen wissen, hat Devon Hardy Geiseln genommen und ist dabei erschossen worden, weil Drake &Sweeney ihn auf die Straße gesetzt hat. Und zwar zusammen mit sechzehn anderen sowie einigen Kindern. Lontae und ihre Familie gehörten ebenfalls dazu.«
Er dachte darüber nach und sagte dann: »Diese Stadt ist wirklich klein.«
»Das ehemalige Lagerhaus stand zufällig auf einem Grundstück, auf dem RiverOaks eine neue Postverteilstelle bauen wollte. Das ist ein 20-Millionen-Projekt.«
»Ich kenne das Gebäude. Da waren schon immer Besetzer.«
»Nur dass es in diesem Fall keine Besetzer waren. Jedenfalls glaube ich das nicht.«
»Ist das eine Vermutung? Oder wissen Sie das genau?«
»Im Augenblick ist es nur eine Vermutung. An der Akte ist manipuliert worden -
es sind Unterlagen entfernt und hinzugefügt worden. Ein Gehilfe namens Hector Palma hat die schmutzige Arbeit erledigt - die Inspektionen und die Zwangsräumung -, und er ist auch meine Quelle. Er hat mir einen anonymen Brief geschrieben, in dem stand, dass die Zwangsräumung nicht rechtens war. Er hat mir bestimmte Schlüssel gegeben, damit ich mir die Akte holen konnte. Seit gestern arbeitet er nicht mehr in der Washingtoner Kanzlei.«
»Wo ist er?«
»Das würde ich auch gern wissen.«
»Er hat Ihnen die Schlüssel gegeben?«
»Nicht direkt. Er hat sie zusammen mit einer Notiz auf meinen Schreibtisch gelegt.«
»Und Sie haben sie benutzt?«
»Ja.«
»Um eine Akte zu stehlen?«
»Ich wollte sie ja nicht stehlen. Ich war unterwegs zu unserem Büro, um sie zu kopieren, als irgendein Idiot
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