Der Verrat
kostet sie pro Monat?«
»Siebenhundertfünfzig.«
Ich zog einen Hundert-Dollar-Schein aus der Brieftasche. Den sah er sofort.
»Ich mache Ihnen einen Vorschlag: Sie geben mir den Schlüssel, ich sehe mir die Wohnung mal an und bin in zehn Minuten wieder zurück. Keiner wird es je erfahren.«
»Wir haben eine Warteliste«, wiederholte er und legte das Sandwich auf den Pappteller.
»Ist die hier im Computer?« sagte ich und zeigte auf den Monitor.
»Ja«, sagte er und wischte sich den Mund ab.
»Dann wäre es ja ganz leicht, sie ein bißchen umzustellen.«
Er nahm den Schlüssel aus einer verschlossenen Schublade und steckte den Schein ein. »Zehn Minuten«, sagte er.
Die Wohnung lag in der Nähe, im Erdgeschoss eines dreistöckigen Gebäudes. Der Schlüssel passte. Schon bevor ich eintrat, roch ich den Geruch frischer Farbe.
Tatsächlich waren die Arbeiten noch gar nicht abgeschlossen: Im Wohnzimmer stieß ich auf eine Leiter, Planen und weiße Eimer.
Nicht einmal ein Team von der Spurensicherung hätte irgendwelche Hinweise darauf gefunden, dass die Familie
Palma hier gelebt hatte. Alle Schränke und Kammern waren leer, die Teppichböden waren herausgerissen und weggebracht worden. Sogar die Kalkränder in Toilette und Bad waren entfernt worden. Kein Staub, kein Schmutz, keine Spinnweben unter der Küchenspüle. Die Wohnung war makellos sauber. Alle Zimmer waren weiß gestrichen, mit Ausnahme des Wohnzimmers, das erst halb fertig war.
Ich ging wieder ins Büro und warf den Schlüssel auf die Theke.»Und? Wie sieht’s aus?« fragte der Student.
»Zu klein«, sagte ich. »Aber trotzdem vielen Dank.«
»Wollen Sie Ihr Geld zurück?«
»Sind Sie auf der Uni?«
»Ja.«
»Dann behalten Sie’s.«
»Danke.«
An der Tür drehte ich mich auch einmal um und fragte: »Hat Palma eigentlich eine Nachsendeadresse hinterlassen?«
»Ich dachte, er war Ihr Kollege«, sagte er.
»Richtig«, sagte ich und schloss rasch die Tür hinter mir.
ZWEIUNDZWANZIG
Als ich am Mittwoch morgen zur Arbeit kam, saß die kleine Frau auf unserer Schwelle. Es war kurz vor acht, die Tür war noch verschlossen, und die Temperatur lag unter Null. Zunächst dachte ich, sie habe dort übernachtet und im Eingang Schutz vor dem Wind gesucht. Doch als sie mich kommen sah, sprang sie auf und sagte: »Guten Morgen«.
Ich lächelte, begrüßte sie und holte die Schlüssel hervor.
»Sind Sie Anwalt?« fragte sie.
»Ja.«
»Für Leute wie mich?«
Ich nahm an, dass sie obdachlos war, und das war die einzige Bedingung, die unsere Mandanten erfüllen mussten. »Ja. Kommen Sie rein«, sagte ich und öffnete die Tür. Drinnen war es kälter als draußen. Ich stellte einen Thermostaten ein, der, soweit ich hatte feststellen können, mit keinem Heizkörper verbunden war. Ich setzte Kaffee auf und bot ihr ein paar altbackene Donuts an, die ich in der Küche gefunden hatte. Sie schlang einen hinunter.
»Wie heißen Sie?« fragte ich. Wir saßen im Empfangsraum neben Sofias Schreibtisch, warteten auf den Kaffee und beteten darum, dass die Heizkörper wärmer wurden.
»Ruby.«
»Ich bin Michael. Wo wohnen Sie, Ruby?«
»Hier und da.« Sie trug einen grauen Trainingsanzug, dicke braune Socken und schmutzige weiße Turnschuhe ohne Markennamen. Sie war zwischen dreißig und vierzig, sehr dünn und hatte einen leichten Silberblick.
»Na, kommen Sie schon«, sagte ich und lächelte. »Ich muss wissen, wo Sie wohnen.
In einer Obdachlosenunterkunft?«
»Früher mal, aber dann musste ich da weg. Ich war um ein Haar vergewaltigt worden. Ich hab einen Wagen.«
Ich hatte bei meiner Ankunft keinen Wagen in der Nähe des Büros gesehen. »Sie haben einen Wagen?«
»Ja.«
»Fahren Sie damit herum?«
»Der ist nicht zum Fahren. Ich schlafe auf dem Rücksitz.«
Fragen zu stellen, ohne einen Notizblock vor mir zu haben, war ich nicht gewohnt. Ich schenkte Kaffee in zwei große Pappbecher, und dann gingen wir in mein Büro, wo der Heizkörper glücklicherweise tickte und gurgelte. Ich schloss die Tür. Mordecai würde bald eintreffen, und die Kunst des leisen Auftritts hatte er nie gelernt.
Ruby saß auf der Kante des braunen Klappstuhls für Mandanten. Sie ließ die Schultern hängen, ihr ganzer Oberkörper schien sich um den Kaffeebecher zu schmiegen, als wäre es das letzte Warme, was sie in ihrem Leben bekommen würde.
»Was kann ich für Sie tun?« fragte ich. Meine Notizblocks lagen in Reichweite.
»Es geht um meinen Sohn, Terrence. Er ist
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