Der Verrat
Chance war immerhin Teilhaber. An seiner Stelle hätte ich Hector als Zuckerbrot eine Menge Bargeld und als Peitsche die fristlose Kündigung angeboten. Und ich hätte einen Freund und Teilhaber, beispielsweise in Denver, angerufen und um einen Gefallen gebeten: einen schnellen Wechsel für einen Anwaltsgehilfen. Es wäre nicht sehr schwer gewesen.
Hector war irgendwo untergebracht worden, wo ich oder sonst wer, der ihm Fragen stellen wollte, ihn nicht finden würde. Er arbeitete noch immer für die Kanzlei, und sein Einkommen hatte sich wahrscheinlich verbessert.
Und was war mit dem Lügendetektortest? War das bloß eine Drohung gewesen, die die Kanzlei gegen mich und Hector einsetzte? Hatte er den Test absolviert und bestanden? Wohl kaum.
Chance brauchte Hector, um die Wahrheit zu vertuschen. Hector brauchte Chance, um seinen Job zu behalten. An irgendeinem Punkt hatte der Teilhaber dafür gesorgt, dass man den Plan, einen Lügendetektor einzusetzen, fallen ließ -falls man ihn überhaupt je in Erwägung gezogen hatte.
Das Apartmentgebäude war langgestreckt und verwinkelt; man hatte es, als die Stadt sich nach Norden ausdehnte, erweitert. In den Straßen der Umgebung gab es viele Schnellimbisse, Tankstellen und Videoverleihe - was man als Berufspendler eben so brauchte, wenn man Zeit sparen wollte.
Ich parkte neben ein paar Tennisplätzen und sah mir den Komplex genauer an. Ich ließ mir Zeit, denn ich wusste ohnehin nicht, wohin ich nach diesem Abenteuer gehen sollte. Überall konnten mich Polizisten mit Handschellen und einem Haftbefehl erwarten. Ich versuchte, nicht an die Horrorgeschichten zu denken, die ich über das Washingtoner Gefängnis gehört hatte.
Eine jedoch war mir wie ins Gedächtnis gebrannt: Vor einigen Jahren hatte ein junger Mitarbeiter von Drake & Sweeney an einem Freitag nach Feierabend ein paar Stunden in einer Bar in Georgetown verbracht. Als er die Staatsgrenze nach Virginia überquert hatte, war er unter dem Verdacht der Trunkenheit am Steuer verhaftet worden. Auf dem Polizeirevier hatte er sich geweigert, ins Röhrchen zu blasen, und war sofort in die Ausnüchterungszelle gebracht worden. Die Zelle war überfüllt, und er war der einzige mit Anzug, einer schönen Uhr, teuren Schuhen und einem weißen Gesicht. Er trat versehentlich einem anderen auf den Fuß und wurde brutal zusammengeschlagen. Nach drei Monaten in einem Krankenhaus, wo sein Gesicht wieder einigermaßen hergestellt wurde, ging er zurück nach Wilmington, wo seine Familie sich um ihn kümmerte. Der Hirnschaden war nicht sehr gravierend, aber immerhin groß genug, um eine Karriere in einer großen Kanzlei unmöglich zu machen.
Das erste Hausmeisterbüro war geschlossen. Ich machte mich auf die Suche nach einem anderen. Im Telefonbuch hatte nur die Adresse, keine Apartmentnummer gestanden. Der Komplex war bewacht. Auf den kleinen Baikonen standen Fahrräder und Plastikspielzeug. Durch die gitterlosen Fenster sah ich Familien beim Essen und vor dem Fernseher. Auf den Parkplätzen standen mittelgroße Wagen von Pendlern, die meisten sauber und mit allen vier Radkappen.
Ein Mann vom Sicherheitsdienst hielt mich an. Nachdem er sich davon überzeugt hatte, dass ich keine Gefahr darstellte, beschrieb er mir den Weg zum Hauptbüro, das mindestens fünfhundert Meter entfernt war.
»Wie viele Wohnungen umfasst der Komplex?« fragte ich ihn.
»Viele«, antwortete er. Warum hätte er die Zahl auch wissen sollen?
Die Nachtbereitschaft hatte ein Student, der gerade ein Sandwich aß. Ein Physikbuch lag aufgeschlagen auf dem Tisch, doch er hatte den Blick auf einen kleinen Fernseher gerichtet, wo das Spiel der Bullets gegen die Knicks lief. Ich fragte nach Hector Palma, und er tippte den Namen in den Computer ein. Wohnung G-134.
»Die sind allerdings umgezogen«, sagte er mit vollem Mund.
»Ja, ich weiß«, sagte ich. »Ich war ein Kollege von ihm. Freitag war sein letzter Tag. Ich suche eine Wohnung und wollte fragen, ob ich mir seine mal ansehen kann.«
Bevor ich ausgeredet hatte, schüttelte er schon den Kopf. »Nur samstags. Wir haben hier neunhundert Wohnungen. Und es gibt eine Warteliste.«
»Am Samstag bin ich nicht da.«
»Tut mir leid«, sagte er, nahm noch einen Bissen und wandte sich wieder dem Spiel zu.
Ich holte meine Brieftasche hervor. »Wie viele Schlafzimmer hat die Wohnung?«
Er sah auf den Fernseher. »Zwei.«
Hector hatte vier Kinder. Ich war sicher, dass seine neue Wohnung größer war.
»Was
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