Der Verrat
sechzehn, und sie haben ihn mir weggenommen.«
»Wer hat ihn Ihnen weggenommen?«
»Die Stadt, die Pflegeeltern.«
»Wo ist er jetzt?«
»Bei ihnen.«
Ihre Antworten waren kurz und nervös und folgten unmittelbar auf meine Fragen.
»Entspannen Sie sich und erzählen Sie mir von Terrence«, sagte ich.
Das tat sie dann auch. Ohne auch nur den Versuch zu machen, mir in die Augen zu sehen, und mit beiden Händen den Kaffeebecher umklammernd, schnurrte sie ihre Geschichte herunter. Vor ein paar Jahren - sie wusste nicht mehr genau, wann, aber Terrence war etwa zehn Jahre alt gewesen -, hatten sie allein in einer kleinen Wohnung gewohnt. Dann hatte man sie wegen Drogenhandels verhaftet. Sie musste für vier Monate ins Gefängnis, und Terrence lebte in dieser Zeit bei ihrer Schwester. Nach ihrer Entlassung holte sie Terrence ab, und dann begann der Alptraum eines Lebens auf der Straße. Sie schliefen in Autos, kampierten in leerstehenden Gebäuden, im Sommer auch unter Brücken, und zogen im Winter in eine Unterkunft. Irgendwie gelang es ihr, Terrence in der Schule zu lassen. Sie bettelte auf der Straße, sie verkaufte ihren Körper -»wackeln gehen« nannte sie das - und ein bißchen Crack. Sie tat alles, um Terrence warme Mahlzeiten, anständige Kleidung und regelmäßigen Schulbesuch zu ermöglichen.
Aber sie war süchtig und konnte die Finger nicht vom Crack lassen. Sie wurde schwanger, und als das Kind geboren war, nahm die Stadt es ihr sofort weg. Es war ein Crack-Baby.
An diesem Kind schien ihr nichts zu liegen - sie liebte nur Terrence. Die Behörden begannen, nach ihm zu fragen, und Mutter und Kind zogen sich immer tiefer in die Schatten der Obdachlosigkeit zurück. In ihrer Verzweiflung wandte Ruby sich an eine Familie, bei der sie einmal als Hausmädchen gearbeitet hatte.
Die Rowlands hatten selbst Kinder, die aber längst aus dem Haus waren. Und sie hatten ein warmes, kleines Haus in der Nähe der Howard University. Sie bot ihnen fünfzig Dollar pro Monat, wenn sie Terrence bei sich aufnehmen würden. Über der hinteren Veranda war ein kleines Zimmer, das Ruby oft geputzt hatte und das für Terrence ideal war. Zunächst zögerten die Rowlands, doch schließlich waren sie einverstanden. Damals waren sie gute, anständige Menschen. Ruby durfte ihren Sohn täglich für eine Stunde besuchen. Seine schulischen Leistungen verbesserten sich, er nahm keine Drogen und lebte in einer sicheren Umgebung.
Ruby war sehr mit sich zufrieden.
Er war das Zentrum, um das ihr Leben kreiste. Sie suchte sich neue Suppenküchen und Essensausgabestellen, die in der Nähe der Rowlands lagen, andere Notunterkünfte, andere Gassen und Parks und ausrangierte Wagen. Jeden Monat brachte sie das versprochene Geld auf, und jeden Abend besuchte sie ihren Sohn.
Bis sie wieder verhaftet wurde. Die erste Verhaftung erfolgte wegen Prostitution, die zweite, weil sie auf einer Parkbank am Farragut Square geschlafen hatte. Vielleicht war sie auch ein drittes Mal verhaftet worden - sie konnte sich nicht genau erinnern.
Einmal, als man sie bewusstlos auf der Straße gefunden hatte, war sie ins Krankenhaus gebracht worden. Man hatte sie auf kalten Entzug gesetzt, aber nach drei Tagen war sie wieder gegangen, weil Terrence ihr fehlte.
Eines Abends in seinem Zimmer starrte er auf ihren Bauch und fragte sie, ob sie wieder schwanger sei. Sie sagte, sie glaube schon. Er wollte wissen, wer der Vater sei. Sie sagte, sie wisse es nicht, worauf er sie so lautstark beschimpfte, dass die Rowlands sie baten zu gehen.
Während ihrer Schwangerschaft wollte Terrence praktisch nichts mit ihr zu tun haben. Es brach ihr fast das Herz: Sie schlief in Schrottwagen, bettelte auf der Straße und zählte die Stunden, bis sie ihn wiedersehen konnte - und saß dann eine Stunde lang in seinem Zimmer, während er seine Hausaufgaben machte und sie ignorierte.
Hier begann Ruby zu weinen. Ich machte mir Notizen und hörte, wie Mordecai im Empfangsraum herumstapfte und versuchte, einen Streit mit Sofia vom Zaun zu brechen.
Ihr drittes Kind, vor einem Jahr geboren, war wieder ein Crack-Baby und wurde ihr sofort weggenommen. Vier Tage lag sie im Krankenhaus, erholte sich von der Entbindung und konnte Terrence nicht besuchen. Als man sie entließ, kehrte sie zu dem einzigen Leben zurück, das sie kannte.
Terrence war ein guter Schüler mit ausgezeichneten Leistungen in Mathematik und Spanisch. Er spielte Posaune und wirkte bei Aufführungen der Theatergruppe mit.
Er
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