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Der Verrat

Der Verrat

Titel: Der Verrat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Grisham
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bringen.
    Die Demonstration war der Aufmacher der Elf-Uhr-Nachrichten. Es gab Großaufnahmen von den fünf Särgen auf den Stufen des District Buildings und während des Marsches durch die Straßen zum Capitol. Mordecai sprach zur Menge, die größer war, als ich gedacht hatte - man schätzte sie auf fünftausend Menschen. Der Bürgermeister wollte keinen Kommentar abgeben.
    Ich schaltete den Fernseher aus und wählte Claires Nummer. Wir hatten seit vier Tagen nicht miteinander gesprochen, und ich wollte so höflich sein, das Eis zu brechen. Genaugenommen waren wir noch immer verheiratet. Es würde schön sein, in einer Woche oder so mit ihr zu Abend zu essen.
    Nach dem dritten Klingelton sagte eine fremde Stimme: »Hallo?« Es war ein Mann.
    Eine Sekunde lang war ich so verblüfft, dass ich kein Wort herausbrachte. Es war Donnerstag nacht, halb zwölf. Claire hatte Besuch von einem Mann. Ich war vor nicht einmal einer Woche ausgezogen. Fast hätte ich aufgelegt, aber dann fasste ich mich und sagte: »Kann ich bitte Claire sprechen?«
    »Wer ist da?« fragte er barsch.
    »Michael, ihr Mann.«
    »Sie ist unter der Dusche«, sagte er mit einem Unterton von Befriedigung.
    »Dann sagen Sie ihr, dass ich angerufen habe.« Ich legte rasch den Hörer auf.
    Bis Mitternacht ging ich in meinen drei Zimmern auf und ab, dann zog ich mich wieder an und machte einen Spaziergang. Wenn eine Ehe zerbricht, geht man in Gedanken alle möglichen Szenarien durch. Lag es einfach daran, dass wir uns langsam auseinanderentwickelt hatten, oder war es viel komplizierter? Hatte ich die Warnsignale übersehen? War dieser Mann ein flüchtiger Bekannter, oder hatten sie schon seit Jahren ein Verhältnis miteinander? War er irgendein überhitzter Arzt mit Frau und Kindern oder ein junger, viriler Medizinstudent, der ihr gab, was ihr bei mir gefehlt hatte?
    Ich sagte mir immer wieder, dass es gleichgültig war. Wir ließen uns nicht wegen ehelicher Untreue scheiden. Wenn Claire durch andere Betten wanderte, dann war es jetzt zu spät, um sich darüber Gedanken zu machen.
    Unsere Ehe war vorbei - so einfach war das. Die Gründe spielten keine Rolle mehr. Was Claire tat, war mir vollkommen egal. Sie war vorbei, erledigt, vergessen. Wenn ich den Frauen nachlaufen durfte, galt umgekehrt dasselbe für sie.
    Natürlich.
    Um zwei Uhr morgens war ich am Dupont Circle. Ich ignorierte die Angebote der Strichjungen und stieg über Männer hinweg, die in Decken gehüllt auf Bänken schliefen. Es war gefährlich, aber das war mir gleichgültig.
    Ein paar Stunden später kaufte ich eine Schachtel gemischte Donuts, zwei große Becher Kaffee und eine Zeitung. Ruby wartete wie zuvor zitternd vor der Tür.
    Ihre Augen waren geröteter als sonst, und ihr Lächeln kam nicht so bereitwillig.
    Wir setzten uns an den Schreibtisch im Empfangsraum, auf dem der kleinste Stapel längst erledigter Akten lag. Ich räumte sie ein wenig beiseite und stellte die Kaffeebecher und die Donuts auf den Tisch. Ruby mochte die mit Schokolade nicht so gern und nahm lieber die mit Fruchtgeleefüllung.
    »Haben Sie schon die Zeitung gelesen?« fragte ich sie.
    »Nein.«
    »Wie gut können Sie lesen?«
    »Nicht sehr gut.«
    Also las ich sie ihr vor. Ich begann mit der Titelseite, hauptsächlich weil dort ein großes Foto der fünf Särge abgedruckt war, die auf einem Meer von Menschen zu treiben schienen. Die Schlagzeile ging über die ganze untere Hälfte der Seite. Ich las Ruby alles vor, und sie hörte aufmerksam zu. Sie hatte vom Tod der Familie Burton gehört, und die Einzelheiten faszinierten sie.
    »Könnte ich auch so sterben?« fragte sie.
    »Nein, es sei denn, Ihr Wagen hat einen Motor und Sie lassen ihn laufen, damit die Heizung funktioniert.«
    »Ich wollte, ich hätte eine Heizung.«
    »Sie könnten an Unterkühlung sterben.«
    »Hm?«
    »Sie könnten erfrieren.«
    Sie wischte sich den Mund mit einer Serviette ab und trank einen Schluck Kaffee.
    In der Nacht, als Ontario und seine Familie gestorben waren, waren es zwölf Grad unter Null gewesen. Wie hatte Ruby überlebt?
    »Wohin gehen Sie, wenn es sehr kalt wird?« fragte ich sie.
    »Nirgendwohin.«
    »Sie bleiben im Wagen?«
    »Ja.«
    »Und wie halten Sie sich warm?«
    »Ich hab jede Menge Decken. Ich vergrabe mich einfach unter Decken.«
    »Sie gehen nie in eine Unterkunft?«
    »Nie.«
    »Würden Sie in eine Unterkunft gehen, wenn es Ihnen helfen würde, Terrence wiederzusehen?«
    Sie legte den Kopf schief und sah mich

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