Der Verrat
Augen und wutverzerrtem Gesicht wirbelte Sano herum. »Fürstin Yanagisawa hat das Tagebuch zu spät gebracht.« Noch immer durchstreifte Sano den Garten. Reiko lief ihm hinterher. »Der Shōgun hat es bereits gelesen. Jetzt verdächtigt er mich, Fürst Mitsuyoshi getötet zu haben …«
»Oh nein!« Reiko blieb stehen und fasste sich an den Hals, als sie voller Entsetzen begriff, was Sanos Worte bedeuteten. Nie zuvor hatte sie ihn so aufgebracht erlebt, weil nie zuvor etwas so Schreckliches geschehen war.
»Dieser niederträchtige, intrigante Hoshina hat das Tagebuch in die Hände bekommen. Und er hat dafür gesorgt, dass der Shōgun es lesen konnte.« Als Sano aufgebracht und mit wirren Worten den Verlauf des Treffens schilderte, schlug er wild auf die Büsche ein, die ihm im Weg standen. Reiko beobachtete bestürzt, wie zornig ihr Gemahl war. »Hoshina hat mich einen Verräter geschimpft! Ich konnte den Shōgun so eben noch überzeugen, dass er mir die Gelegenheit gibt, meine Unschuld zu beweisen.«
Reiko holte Sano ein und packte seinen Arm. »Es wird alles wieder gut«, sagte sie in dem Versuch, ihn zu beruhigen.
»Vier Jahre lang habe ich alles getan, was der Shōgun von mir verlangt hat. Ich habe mein Blut für seine Ehre vergossen, habe für seine Macht und seinen Ruhm gekämpft!« Sano blieb stehen, riss seinen Umhang auf und entblößte die Narben auf seinem Brustkorb. »Ich weiß, dass der Shōgun mir nichts schuldig ist. Ich wünsche mir nur, dass er mich als den getreuen Gefolgsmann betrachtet, der ich bin.«
Reiko bemerkte O-sugi und Masahiro, die auf der Veranda standen und aufgerissenen Mundes Sanos Wutanfall beobachteten. »Geht hinein«, wies Reiko sie an, ehe sie sich Sano wieder zuwandte. »Beruhige dich. Komm ins Haus und trink einen Schluck Sake.«
Doch Sano schien ihre Worte gar nicht zu hören. »Man hätte doch meinen können, der Shōgun hätte dieses eine Mal – nur ein einziges Mal! – mir vertraut und nicht auf die Verleumdung meiner Feinde gehört«, stieß er hervor. »Aber nein – er glaubte unbesehen alles, was Hoshina gegen mich vorbrachte, und war bereit, mich auf der Stelle zu verdammen, ohne sich meine Version auch nur anzuhören!« Sano stieß ein bitteres Lachen aus. »Ich konnte meinen Hals nur deshalb aus der Schlinge ziehen, weil ich schon so oft in solchen Situationen war, dass ich wusste, wie ich mich herausreden konnte.«
Die Ungerechtigkeit, die der Shōgun Sano gegenüber häufig an den Tag legte, bereitete auch Reiko Schmerz und erregte ihren Zorn, doch so heftig hatte sie Sano noch nie darüber klagen hören. Reiko, die Angst um ihren Gemahl und vor ihrem Gemahl hatte, eilte zu ihm.
»Du wirst auch diese Schwierigkeit meistern«, versuchte sie ihn zu beschwichtigen. »Der Shōgun wird dir bald wieder sein Vertrauen schenken.«
»Nein, das wird er nicht!«, stieß Sano hervor, lodernde Wut in den Augen. »Ich bin am Ende. Ich habe genug von brutalen Morden und schmutziger Politik. Ich habe genug davon, einem Herrn zu gefallen, der stets damit droht, mich zu töten.« Er schlug sich die Fäuste in die Seiten und warf den Kopf zurück. » Ich kann nicht mehr !«
Reiko schnappte entsetzt nach Luft. »Aber … aber was willst du tun?«, fragte sie, und ihre Stimme bebte vor Angst. Wenn Sano dem Shōgun die Treue verweigerte, würde er seinen Rang, seine Anstellung und sein Heim ebenso verlieren wie seine Ehre, vielleicht sogar sein Leben. Und was sollte dann aus ihr, Reiko, und Masahiro werden? Reiko drückte sich die kalten Hände auf die Wangen. »Und wo willst du hin?«
»Ich weiß es nicht.« Sano nahm seine ziellose, unruhige Wanderung durch den Garten wieder auf. »Es ist mir auch gleich, solange es nur weit genug vom Palast und allen Menschen hier entfernt ist.«
»Du kannst doch nicht alles aufgeben«, sagte Reiko, die ihm folgte, wobei sie vor Furcht am ganzen Leib zitterte. »Bitte denk an Masahiros Zukunft.« Sano wusste, welches Elend der Sohn eines rōnin , eines herrenlosen Samurai, zu erwarten hatte. Dieses Schicksal wollte er Masahiro doch sicher ersparen …?
»Oh, ich denke an seine Zukunft! Ich will nur nicht, dass mein Sohn immer wieder in ausweglose Situationen gerät, weil er falschen Beschuldigungen ausgesetzt ist, so wie ich.«
Sanos Ärmel verfing sich im Ast eines Azaleenbusches. Mit einem wütenden Aufschrei zog er sein Schwert und schlug wild auf den Busch ein. Bei jedem Hieb wirbelten Zweige durch die Luft, begleitet von den
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