Der Verrat
verstummte und umklammerte mit den Händen ihren Kimono. »Ich tat so, als würde ich ihn gar nicht sehen«, fuhr sie dann fort. »Und ich habe die Tür nicht geöffnet. Als ich am nächsten Morgen zum Markt ging, jagte er mich in eine Gasse. Er sagte, er würde mir eine Lehre erteilen.« Chidori wandte ihr Gesicht von Hirata ab, schlug den Kimono auf und flüsterte: »Dann hat er mir das hier angetan.«
Eine hässliche rote Narbe zog sich über ihren Brustkorb bis zum Bauchnabel. Vor Mitleid und Erschrecken zuckte Hirata zusammen. »Dann wusstest du also, dass er seine Drohungen ernst meinte«, sagte er. »Hast du Himmelsfeuer in der Mordnacht ins ageya gelassen?«
Die Augen niedergeschlagen, schloss die kamuro ihren Kimono und nickte. Hirata hatte erneut das Gefühl, in die Vergangenheit einzutauchen. Er sah Chidori vor dem geistigen Auge, wie sie die Tür öffnete, sah die schattenhafte Gestalt eines Mannes, die ins Haus huschte …
»Was geschah, nachdem du Himmelsfeuer eingelassen hattest?«, fragte Hirata.
»Er sagte, er würde mich töten, wenn ich jemandem erzähle, dass er hier war. Dann stieg er die Treppe hinauf, und ich ging zurück an die Arbeit.«
Hirata lauschte dem Gesang des hokan , der ein schlüpfriges Lied vortrug, und den Feiernden, die vor Vergnügen grölten. Beinahe glaubte er, den Nachhall der Leidenschaft und der Gewalt zu spüren, den der Mörder hinterlassen hatte.
»Mehr … mehr weiß ich nicht …«, stammelte Chidori, und Hirata wusste, dass sie die Wahrheit sprach. Das Mädchen begann zu schluchzen. »Werdet Ihr mich jetzt verhaften?«
»Nein«, versicherte Hirata ihr. »Himmelsfeuer hat dich gezwungen, ihm zu gehorchen. Du bist für den Mord nicht verantwortlich.«
»Aber wenn ich ihn nicht ins Haus gelassen hätte, würde Fürst Mitsuyoshi vielleicht noch leben!«
Hirata schüttelte den Kopf. »Sein Tod ist nicht deine Schuld, sondern die Schuld des brutalen Mörders.« Wisterie, Schatzminister Nitta, Fujio oder eine bisher noch unbekannte Person könnten den Mord begangen haben, doch nun hielt Hirata Himmelsfeuer für den Täter. Ein Mann, der einem jungen Mädchen wie Chidori solche Wunden zufügte, war brutal und rücksichtslos genug, Fürst Mitsuyoshi zu erstechen.
»Sag mir alles, was du über Himmelsfeuer weißt«, forderte er das Mädchen auf. »Hat er noch einen anderen Namen?«
Chidori zog die Augenbrauen zusammen und dachte nach. »Nicht, dass ich wüsste.«
»Wie sieht er aus?«
»Er ist nicht sehr groß, aber riesig stark.« Das Mädchen breitete die Arme aus, um den kräftigen Körper Himmelsfeuers zu veranschaulichen. Hiratas beharrliche Befragung förderte noch weitere Einzelheiten zu Tage: Himmelsfeuer führte zwei Schwerter bei sich, ritt ein Pferd und trug sein Haar zu einem Knoten gebunden, doch sein Schädel war nicht rasiert. »Und seine Augen sind ganz seltsam«, sagte Chidori. »Sie bewegen sich immerzu.«
Es war keine ausführliche Beschreibung, doch Hirata ging davon aus, dass Wisteries Liebhaber ein rōnin war, ein herrenloser Samurai. »Fällt dir sonst noch etwas ein?«, fragte er Chidori.
»Himmelsfeuer kommt immer mit einer Horde von Freunden nach Yoshiwara. Sie sehen genauso bösartig aus wie er selbst.«
Hirata horchte auf. Eine scheinbar unbedeutende Information vom ersten Tag der Ermittlungen bekam nun eine neue Bedeutung. Hirata erkannte, dass Himmelsfeuer tatsächlich ins Bild des Verbrechens passte.
Chidori blickte Hirata ängstlich an. »Und wenn Himmelsfeuer zurückkommt? Was ist, wenn er erfährt, dass ich über ihn gesprochen habe?«
»Hab keine Angst. Er kommt nicht zurück.« Hirata war entschlossen, Himmelsfeuer zu verhaften, ehe dieser noch mehr Unheil anrichten konnte.
Nachdem Hirata sich bei Chidori für ihre Hilfe bedankt hatte, rief er seine Begleiter. Sie eilten die Nakanochō hinunter. Das Licht der Laternen erhellte den Abend, Küchengerüche erfüllten die Straßen und Gassen, und aus den Teehäusern drang fröhliche Musik. Noch immer eng mit der Vergangenheit verbunden, folgte Hirata dem Weg, den Fürst Mitsuyoshis Mörder aus Yoshiwara heraus genommen haben musste. Er konnte die geisterhaften Schritte auf der Straße beinahe sehen. Als Hirata mit seinen beiden Ermittlern das Tor erreichte, erblickte er dieselben Wachposten, die er bei der ersten Inspektion des Tatorts verhört hatte.
»Ich möchte über die Nacht sprechen, in der Fürst Mitsuyoshi starb«, sagte Hirata. »Sagt mir noch einmal, wer Yoshiwara
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