Der Verrat
Sofort stürmte Hirata ihr hinterher.
Sie rannte einen dunklen, kalten Flur hinunter und wich einem Mann aus, der ein Fass aus einem Vorratsraum rollte. Hirata lief an den Dienstmädchen in einer Küche vorbei und rief: »Chidori-chan. Bleib stehen!«
Der Flur endete vor einer geschlossenen Tür. Chidori versuchte, sie zu öffnen, doch es gelang ihr nicht. Sie drückte sich mit dem Rücken gegen die Tür und starrte Hirata hilflos an, Augen und Mund vor Angst weit aufgerissen.
»Hab keine Furcht.« Hirata blieb ein paar Schritte von ihr entfernt stehen und hob die Hände, um das Mädchen zu beruhigen. Laute Musik und Gelächter drangen aus dem Gesellschaftsraum. »Ich will dir nichts Böses.«
Chidori schien ihm zu glauben, denn sie entspannte sich ein wenig.
»Warum bist du davongelaufen?«, fragte Hirata.
»Ich … ich habe gehört, dass Ihr Fragen gestellt habt«, flüsterte das Mädchen.
Hirata spürte, dass er mit einer Zeugin sprach, die ihm Informationen geben konnte. »Weißt du etwas über den Mord an Fürst Mitsuyoshi, das du uns noch nicht gesagt hast?«
Die kamuro wandte den Blick ab und biss sich auf die Unterlippe. »Ich wollte nicht, dass jemandem etwas Böses geschieht …«
»Ich weiß«, sagte Hirata mit einem verstörten Blick auf Chidori. Hatte sie Fürst Mitsuyoshi erstochen? Wollte sie ihre Tat verheimlichen und war deshalb davongelaufen? Ihre kleinen Zähne waren mit rotem Lippenstift beschmiert, und Tränen rannen über den weißen Gesichtspuder auf ihren dünnen Wangen. Sie war noch ein Kind.
»Er hat gesagt, wenn ich nicht gehorche, schlägt er mich«, jammerte Chidori.
»Von wem sprichst du?«, fragte Hirata verwirrt.
»Himmelsfeuer«, brach es aus Chidori hervor.
»Wer ist Himmelsfeuer?« Hiratas Pulsschlag beschleunigte sich. Dieser Name war im Zusammenhang mit dem Mord noch nicht erwähnt worden. War dieser Mann ein neuer Verdächtiger, der bisher nicht entdeckt worden war? Hirata hockte sich vor die kamuro und legte ihr die Hände auf die Schultern. Ihre Knochen waren zart wie die eines Vogels. »Sag es mir«, drängte er.
Chidori schüttelte den Kopf so heftig, dass ihr weiches Haar hin- und herflog. »Ich kann nicht! Ich musste ihm versprechen, nichts zu sagen! Ich habe Angst vor ihm!«
»Du brauchst dich nicht zu fürchten. Ich beschütze dich«, versprach Hirata.
Chidori blickte sich argwöhnisch um. Dann raunte sie: »Himmelsfeuer ist der Liebhaber von Kurtisane Wisterie.«
»Du meinst, er ist einer ihrer Kunden?«
»Nein. Er hat sie nie bezahlt, und er kam zu ihr, wann immer beide Zeit hatten. Der Herr wusste nichts von ihm und Wisterie. Niemand wusste es – nur ich.« Chidori sprach jetzt flüssiger, als wäre sie erleichtert, sich endlich alles von der Seele reden zu können. »Ich musste ihnen helfen, dass sie sich heimlich treffen konnten.«
Hirata sprang überrascht auf. »Stammt dieser Mann, dieser Himmelsfeuer, aus Hokkaido?«
»Ich weiß es nicht.«
Hirata glaubte jedoch, dass er die Spur des heimlichen Geliebten gefunden hatte, der in dem ersten Tagebuch beschrieben worden war – vermutlich dem richtigen. Ob dieser Geliebte aus Hokkaido stammte, spielte dabei keine Rolle. Wisterie könnte Einzelheiten verändert haben, um die Identität des Mannes zu verschleiern.
»Sag mir, wie du Himmelsfeuer und Wisterie geholfen hast, dass sie sich treffen konnten.«
»Ich musste nach ihm Ausschau halten«, antwortete Chidori. »Wenn er kam, stand er immer vor dem ageya auf der Straße, und ich musste Wisterie Bescheid sagen, sobald ich ihn sah. Dann schüttete sie ihren Kunden ein Schlafmittel in ihren Sake. Sobald der Kunde eingeschlafen war, wickelte sie ein rotes Tuch um die Laterne in ihrem Zimmer, sodass das Licht rot schimmerte. Sobald Himmelsfeuer es sah, ging er zur Hintertür des ageya . Ich musste dann dafür sorgen, dass niemand in der Nähe war, und ihn hereinlassen.«
Und die beiden haben sich geliebt, während Wisteries Kunden schliefen, so wie sie es in dem Tagebuch beschrieben hatte, überlegte Hirata.
»Ich wollte es nicht tun«, platzte es aus Chidori heraus. »Kurtisanen dürfen Männern nicht kostenlos zu Diensten sein. Ich hätte Wisterie nicht helfen dürfen, die Regeln zu übertreten. Mein Herr würde mich schlagen, wenn er mich jemals bei einem Ungehorsam erwischt. Einmal habe ich Wisterie gesagt, dass ich ihr nicht mehr helfen würde, weil ich Angst vor einer Bestrafung hätte. Als Himmelsfeuer das nächste Mal kam …«
Sie
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