Der Verrat
zu weißen Wölkchen, die vom scharfen Wind davongerissen wurden.
Vor der hohen Mauer, die Yoshiwara zusätzlich zum Graben umschloss, stiegen Sano und seine Männer von den Pferden. Wie der Wassergraben diente auch diese Mauer dazu, die Außenwelt vor den Lastern und Ausschweifungen im Vergnügungsviertel abzuschirmen und umgekehrt; außerdem hinderte sie die Kurtisanen, die unter Zwang als Prostituierte arbeiteten, an der Flucht. Sano und seine Leute gaben ihre Pferde bei einem Stalljungen in Obhut und gingen über die Brücke, die den Kanal überspannte, zum Tor, das in leuchtend roter Farbe angestrichen war. Es war verschlossen, die armdicken Balken vorgeschoben.
Hinter dem Tor erklang wildes, zorniges Geschrei. »Lasst uns raus!«, riefen mehrere Männer, deren Köpfe über dem oberen Torrand erschienen, da sie auf der anderen Seite hinaufgeklettert waren. »Wir wollen nach Hause! Wir haben nichts Böses getan!«
Vor dem Tor standen vier Beamte der Polizeitruppe Edos auf Posten. »Von euch geht keiner nach Hause!«, rief einer der Beamten zu den aufgebrachten Männern hinauf. »Polizeiliche Anordnung!«
Wütendes Protestgeschrei erhob sich, und dumpfe Schläge ließen das Tor erbeben, als die Männer sich von innen mit den Schultern dagegen warfen.
»Wie es aussieht, ist die Polizei uns zuvorgekommen«, sagte Hirata, und ein besorgter Ausdruck legte sich auf sein jugendliches Gesicht.
Sano nickte und seufzte tief. Er wusste, dass er nun mit zusätzlichen Schwierigkeiten zu rechnen hatte. Trotz seines hohen Ranges und seinem engen persönlichen Verhältnis zum Shōgun konnte er nicht auf die Zusammenarbeit mit der Polizei von Edo zählen, sondern musste im Gegenteil mit Behinderungen rechnen. »Wenigstens sind sämtliche Besucher, die gestern Abend schon in Yoshiwara gewesen sind, immer noch hier. Das erspart uns die Mühe, jeden suchen zu müssen, dessen Beobachtungen von Wichtigkeit sein können.«
Sano näherte sich den Polizisten, die sich vor ihm verbeugten. Nachdem er sich vorgestellt und den Zweck seines Besuchs genannt hatte, erkundigte er sich: »Wo wurde Fürst Mitsuyoshi ermordet?«
»Im ageya Owariya, Herr«, lautete die Antwort.
Sano wusste, dass Yoshiwara eine in sich geschlossene Welt war, in der eigene Regeln galten – auch für die Kurtisanen, von denen ungefähr fünfhundert im Vergnügungsviertel lebten. Die Kurtisanen besaßen unterschiedlich hohe Ränge, wobei ihr jeweiliger Rang auf Schönheit, Herkunft und Bildung beruhte. Den höchsten Rang nahmen die so genannten tayu ein, die auch keisei genannt wurden – Umstürzlerinnen –, da sie durch ihren Einfluss Männer ins Verderben stürzen, ja, ganze Fürstentümer vernichten konnten. Während die niederrangigen Prostituierten in den Bordellen selbst wohnten, empfingen die tayu ihre Kunden in so genannten ageya , »Häusern der intimen Begegnung«, die nur dem Beisammensein mit den Freiern dienten, nicht aber als Wohnhaus für die tayu . Das Owariya war das angesehenste und bekannteste ageya in ganz Yoshiwara und stand nur den reichsten und vornehmsten Kunden offen.
»Macht das Tor auf und lasst uns durch«, befahl Sano den Polizisten.
Die Männer gehorchten. Sano und seine Ermittler betraten das Vergnügungsviertel, während die Polizisten die schubsenden und schreienden Männer, die wie eine Woge aus Leibern gegen das Tor anbrandeten, mit Gewalt zurückdrängten. Als Sano seine Leute die Nakanochō hinunterführte – die Hauptstraße, die Yoshiwara in zwei Hälften teilte –, ließ der kalte Wind die erloschenen Laternen an den Dachvorsprüngen der Holzgebäude hin und her schwingen und trieb den Geruch von Urin und Fäkalien vor sich her. In den Gaststuben und Teehäusern kauerten verkaterte Männer mit mürrischen Mienen und in zerknitterter Kleidung. Prostituierte blickten gespannt aus den Gitterfenstern der Bordelle; Gier spiegelte sich auf ihren grell geschminkten Gesichtern, und jedes Mal erklang aufgeregtes Gemurmel, wenn Sano und seine Männer an einem dieser Fenster vorüberkamen. Ansonsten aber herrschte eine beinahe gespenstische Stille. Der Mord am Erben des Shōgun hatte den lautstarken, ausgelassenen Feiern, die hier sonst rund um die Uhr anhielten, ein jähes Ende bereitet.
Sano bog in die Ageyachō ein, eine der sechs Nebenstraßen der Nakanochō, in der sich ein ageya an das andere reihte. In den Türeingängen standen gelangweilte Diener und Hausangestellte und blickten müßig zum bleigrauen Himmel empor.
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