Der Verrat
Neugier wurde stärker als ihre Schüchternheit. Sie hob den Kopf, schaute Yanagisawa an – und ihre Blicke trafen sich. Ihr wurden die Knie weich. Es war, als würde sie nach einem Leben in Dunkelheit die Sonne erblicken. Plötzlich lächelte er, und eine Hitzewoge stieg in ihr auf. Sie verspürte das prickelnde, schwindelerregende Gefühl der ersten Liebe.
Dass er sich schließlich einverstanden erklärte, sie zu heiraten, war ihr wie ein Wunder erschienen; zum ersten Mal im Leben war sie glücklich gewesen. Als sie und Yanagisawa dann auf der Hochzeitsfeier ihre Sakeschalen tauschten, wie der Brauch es verlangte, wagte sie sogar, von einem glücklichen Leben zu träumen. Doch schon die erste gemeinsame Nacht in seiner Villa zeigte ihr die grausame Wirklichkeit ihrer Ehe.
»Das hier sind deine Gemächer«, sagte Yanagisawa mit kalter Stimme. »Ich lasse dich allein, während du dich entkleidest und zu Bett gehst.«
Zitternd vor Lust und Erwartung, gehorchte sie. Kurz darauf kam Yanagisawa zurück. Ohne ihr einen Blick zu gönnen, löschte er die Lampe, und seine Kleidung raschelte in der Dunkelheit, als er sich auszog. Dann schlüpfte er zu ihr unter die Decke. Wildes Verlangen überkam sie, doch Yanagisawa befriedigte hastig und ohne einen Hauch von Zärtlichkeit seine Lust, stand auf und verließ das Gemach, als wäre sie Luft für ihn. Sie lag allein da und weinte vor Elend und Schmerzen, während warmes Blut ihre Oberschenkel hinunterrann. Verzweifelt fragte sie sich, welchen Fehler sie begangen hatte. Yanagisawa hatte kein Wort zu ihr gesagt, hatte sie bloß wie einen Gegenstand benutzt, hatte nicht einmal ihren Körper betrachtet. Und sie wusste, dass er die Lampe deshalb gelöscht hatte, damit sie seinen Körper nicht sehen konnte.
In den Monaten darauf hatte Yanagisawa ihr kaum mehr Aufmerksamkeit geschenkt. Sie kam sich wie ein Gespenst vor, das in seiner Villa umging. Von der Dienerschaft abgesehen, bekam sie kaum jemanden zu Gesicht, und sie hatte keine einzige Freundin im Palast. Bald sagte sie kaum noch ein Wort. Doch trotz ihrer Bitterkeit und Enttäuschung wuchsen ihre Liebe zu Yanagisawa und ihr Verlangen nach ihm. Alle paar Nächte kam er zu ihr, und jedes Mal hoffte sie, er möge endlich liebevoll und zärtlich zu ihr sein, sodass auch sie sexuelle Befriedigung fand. Doch stets behandelte er sie so kalt und lieblos wie in der ersten Nacht.
So hatte sie mit der Zeit – getrieben von dem Verlangen, ihren Gemahl besser zu verstehen – die Gewohnheit entwickelt, Yanagisawa heimlich zu beobachten und dem Klatsch und Tratsch der Dienerschaft zu lauschen. Sie erfuhr, dass er in sein hohes Amt aufgestiegen war, indem er den Shōgun verführt hatte, mit dem er seit langem ein Verhältnis hatte. Sie fand heraus, dass er sie nur geheiratet hatte, weil er eine Frau wollte, die mit den Tokugawa verwandt war, um auf diese Weise eine familiäre Bindung zum Klan des Shōgun herzustellen. Yanagisawa hatte viele Geliebte gehabt, männliche wie weibliche, die er jedoch schnell wieder verstieß, sodass die Fürstin diese Männer und Frauen als bedeutungslos betrachtete – bloße Werkzeuge zur sexuellen Befriedigung ihres Mannes, die Eifersucht nicht wert waren. Immer noch hatte die Fürstin gehofft, dass ihr Mann eines Tages sie liebte.
Die Geburt Kikukos hatte diese Hoffnung zum ersten Mal aufkeimen lassen.
In den ersten Lebenswochen des Mädchens hatte Yanagisawa oft in der Tür des Kinderzimmers gestanden und zugeschaut, wie seine Frau sich um den Säugling kümmerte. Wenngleich sie zu schüchtern war, mit ihrem Mann zu reden, glaubte sie dennoch, dass er sie als Mutter seines Kindes endlich zu schätzen und lieben lernte.
Doch bald schon zeigten sich Kikukos Behinderungen.
»Warum kann sie nicht gehen? Warum spricht sie nicht?«, wollte Yanagisawa wissen, als Kikuko in das Alter kam, in dem andere Kinder beides lernten.
Er hatte nicht mehr mit seiner Frau geschlafen, nachdem sie schwanger geworden war, und nun kam er nie wieder zu ihr. Sie hörte, wie er zu Bediensteten sagte, dass es an seiner Frau läge, eine Schwachsinnige zur Welt gebracht zu haben, und dass er kein weiteres behindertes Kind wolle.
Kikuko schenkte er nicht die geringste Beachtung.
Nun, als Fürstin Yanagisawa auf dem Dachboden über der Schreibstube des Kammerherrn lag, drückte sie das kleine Mädchen zärtlich an sich. Kikuko war ein liebes und artiges Kind, sie würde so lange still hier auf dem Dachboden liegen bleiben,
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