Der Verrat
wie ihre Mutter es von ihr verlangte, statt zu jammern und sich zu beklagen, wie andere Kinder es tun würden. Kikuko – äußerlich schön und makellos, doch im Innern unvollkommen – war alles, was Fürstin Yanagisawa besaß. Ihre Liebe zu dem Mädchen war so tief, dass sie die grausame Zurückweisung durch den Vater wettmachte.
Trotz allem hatte Fürstin Yanagisawa ihren Mann weiterhin geliebt – sechs Jahre lang, in denen sie geglaubt hatte, ihm eines Tages endlich etwas zu bedeuten. Dann aber hatten zwei Ereignisse diese Hoffnung zunichte gemacht.
Das erste war die Heirat des sōsakan Sano. Fürstin Yanagisawa hatte erst von Sano gehört, als dieser nach seiner Ernennung zum obersten Ermittler des Shōgun in den Palast zu Edo übergesiedelt war. Ihr Mann hatte Sano von Anfang an als Rivalen betrachtet, hatte jeden seiner Schritte von seinen Spitzeln überwachen lassen und gegen Sano intrigiert, wann immer er konnte.
Doch Sano hatte die Fürstin nicht weiter interessiert – bis zu dem Tag, als sie und Kikuko in einer Sänfte von einem Ausflug in die Stadt zum Palast zurückgekehrt waren und eine Gruppe Neugieriger vor den Toren entdeckt hatten, die vornehm gekleidete Ankömmlinge beobachteten.
»Das ist Ueda Reiko, die Braut des sōsakan-sama «, hatte jemand in der Zuschauermenge gerufen.
Neugierig hatte Fürstin Yanagisawa die Sänfte der Braut betrachtet, als die Fenster geöffnet wurden und Reiko ihren weißen Schleier angehoben hatte, um nach draußen zu schauen. Der Anblick ihres schönen Gesichts ließ die Fürstin neidisch und eifersüchtig werden. Reiko besaß alles, was sie nicht hatte. Nur Frauen wie Reiko konnten das Herz ihres Mannes gewinnen. So deutlich wie nie zuvor erkannte Fürstin Yanagisawa die Hoffnungslosigkeit ihrer Liebe zu ihrem Gemahl.
Der Neid auf Reiko erweckte in Fürstin Yanagisawa den Wunsch, mehr über diese Frau zu erfahren. Sie lauschte den Berichten der Spitzel ihres Mannes, die davon erzählten, dass Reiko ihrem Gemahl bei dessen Ermittlungen half. Daraufhin befahl die Fürstin ihrer Dienerschaft, sich bei Reikos Bediensteten zu erkundigen, was die Frau des sōsakan-sama unternahm, wenn sie den Palast verließ. Einige Male folgte sie Reiko sogar unauffällig, wenn diese den Palast verließ. Die Fürstin erfuhr, dass Reiko ein abwechslungsreiches und ausgefülltes Leben führte, während ihr eigenes Leben trist und leer war.
Vor zwei Sommern dann hatte ihr Neid sich in Hass verwandelt, als der sōsakan-sama Reiko auf eine Reise nach Miyako mitnahm. In der Zuschauermenge verborgen, hatte Fürstin Yanagisawa beobachtet, wie Sano und seine Leute den Palast verließen. Sano war neben Reikos Sänfte geritten, und Reiko hatte mit ihm geredet, worauf Sano sie angelächelt hatte. Schon dieser kurze Blick hatte genügt, um Fürstin Yanagisawa erkennen zu lassen, dass Reiko und Sano jene Liebe teilten, die ihr selbst verwehrt blieb. Sie hatte den Reitern und Sänftenträgern hinterhergestarrt und die Hände vor hilflosem Zorn so fest zu Fäusten geballt, dass ihre Fingernägel blutige Halbmonde in die Handflächen gegraben hatten. Doch sie hatte nicht wissen können, dass dieser Auszug nach Miyako der Beginn eines Unternehmens war, das ihr den zweiten katastrophalen Schlag versetzen sollte …
In der Etage unter ihr klopfte nun jemand an die Tür zu Yanagisawas Schreibstube. »Herein!«, rief der Kammerherr.
Polizeikommandeur Hoshina kam mit ernster Miene und vorsichtigen Schritten ins Zimmer. Bei seinem Anblick erlebte Fürstin Yanagisawa wie jedes Mal einen Aufruhr der Gefühle.
Hoshina kniete sich dem Kammerherrn gegenüber auf den Boden. »Ich habe über das Gespräch nachgedacht, das wir gestern Abend geführt haben«, sagte er.
»Ach?« Yanagisawa legte seinen Schreibpinsel nieder. Beide Männer verhielten sich zurückhaltend, doch die Fürstin spürte die Hitze zwischen ihnen, konnte beinahe spüren, wie ihre Herzen schneller schlugen, wie ihr Atem schneller ging und ihre Begierde wuchs.
Yanagisawa war damals ebenfalls nach Miyako gereist und hatte Hoshina nach Abschluss des Falles von dort mit nach Edo gebracht – als neuen Polizeikommandeur der Stadt und als Geliebten. Zorn überkam die Fürstin. Yanagisawa hatte sich in diesen Mann verliebt anstatt in sie! Nacht für Nacht hatte sie die Qualen erdulden müssen, die beiden Männer in sexueller Verzückung zu sehen, die ihr, Yanagisawas Gemahlin, verwehrt blieb. Wie sehr sie Hoshina verachtete! Dieser Mann hatte
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