Der Verrat
Herrin auf einen Irrtum aufmerksam zu machen. »Kurtisane Wisterie stammt nicht vom Lande, obwohl sie das allen Leuten erzählt. Ihre Eltern wohnen in Nihonbashi. Meine Mutter hat als Hausmädchen bei ihnen gearbeitet. Ich kannte Wisterie schon, als wir Kinder waren.«
»Warum sollte Wisterie über ihre Herkunft lügen?«, fragte Reiko skeptisch, wenngleich O-hanas Behauptungen sie faszinierten.
O-hanas Lächeln wurde geheimnisvoll. »Manchmal hören Lügen sich besser an als die Wahrheit.«
Und die Wahrheit über Wisteries Vergangenheit könnte zugleich die Wahrheit über den Mord an Mitsuyoshi ans Licht bringen, überlegte Reiko, deren Herz vor Aufregung plötzlich schneller schlug. »Könnte die Familie denn wissen, wo Wisterie sich aufhält?«, fragte sie.
»Ich könnte Euch den Leuten vorstellen«, erbot O-hana sich eifrig. »Dann können wir sie fragen. Sollen wir uns gleich auf den Weg machen?«
Sie sprang auf. Reiko entging nicht, wie rasch O-hana ihre Pflichten als Kindermädchen vergaß. Außerdem war sie anmaßend, denn sie verhielt sich, als hätte sie ein enges persönliches Verhältnis zu Reiko.
Reikos Misstrauen wuchs. Sie traute O-hana nicht. Auf der anderen Seite hatten die bitteren Erfahrungen während der Auseinandersetzung mit der Sekte der Schwarzen Lotosblüte sie zu einem übertrieben argwöhnischen Menschen werden lassen, und nicht alle wollten ihr Böses. Vor allem durfte sie sich eine Gelegenheit, Sano bei dessen Ermittlungen zu helfen, nicht deshalb entgehen lassen, weil sie die Person, die ihr Hilfe anbot, nicht leiden konnte. Außerdem gab es zurzeit keine andere Möglichkeit, überhaupt etwas zu unternehmen. »Also gut«, sagte Reiko. »Gehen wir.«
»Da ist es«, sagte O-hana, als sie und Reiko in der Sänfte eine Straße hinuntergetragen wurden, die zu beiden Seiten von großen Häusern gesäumt war. »Das nächste Haus auf der linken Seite.«
Reiko rief den Sänftenträgern zu anzuhalten. Sie war froh, am Ziel zu sein, denn die Reise vom Palast hierher ins Händlerviertel Nihonbashi war ungemütlich gewesen. Die Kälte war ins Innere der Sänfte gekrochen und durch die Decken gedrungen, in die Reiko und O-hana sich gehüllt hatten. Und O-hana hatte die ganze Zeit geplappert, hatte die Reise in der Sänfte merklich genossen und versucht, sich wie eine vornehme Dame zu geben, indem sie sich an Reikos Verhalten orientierte. Reiko ließ sich ihren Unwillen nicht anmerken und versuchte stattdessen, sich O-hana gegenüber dankbar zu zeigen, als sie beide endlich aus der Sänfte stiegen und zum Eingang des Hauses gingen.
In dem Haus, das wie seine Nachbarn zweistöckig und in Fachwerkbauweise errichtet war, wohnten betuchte Händler und Kaufleute. Die Häuserfronten lagen unmittelbar an der Straße. Die steilen, mit braunen Ziegeln gedeckten Dächer ragten über die Hauseingänge hinaus, die sich ein Stück zurückgesetzt von der Straße befanden. Das Viertel war vornehmer, als Reiko erwartet hatte, denn Sano hatte ihr erzählt, dass Wisterie aus einer armen Bauernfamilie stamme, die sie in die Prostitution hatte verkaufen müssen.
Eine junge Dienstmagd, in einen blauen Kimono gekleidet und mit einem Besen in der Hand, erschien im Türeingang. Erstaunt blickte sie auf O-hana, Reiko und den Trupp Wachsoldaten, von dem die beiden Frauen eskortiert wurden. »O-hana?«, sagte das Mädchen. »Bist du das? Was ist geschehen?«
»Meine Herrin möchte dich sprechen«, erwiderte O-hana in hochnäsigem Tonfall. »Sag Bescheid, dass die Gemahlin des sōsakan-sama des Shōgun gekommen ist.«
Die Dienstmagd beeilte sich, der Anweisung Folge zu leisten. Kurz darauf führten zwei ältere Hausmädchen die Besucherinnen in eine warme, üppig ausgestattete Empfangshalle und baten sie, Platz zu nehmen. Reiko ließ den Blick über die kunstvoll verzierten Tische und Truhen aus Lackarbeit, über die Wandschirme, die seidenen Sitzkissen und die Regale voller Porzellanvasen schweifen.
»Ist es nicht wunderschön?«, flüsterte O-hana Reiko ins Ohr, während sie auf Wisteries Mutter warteten.
Reiko nickte, wenngleich die Einrichtung eher den zweifelhaften Geschmack neureicher Händler widerspiegelte.
Schließlich kam eine kleine Frau von ungefähr vierzig Jahren mit gezierten Trippelschritten ins Zimmer, gefolgt von zwei Dienerinnen. Ihr rundes Gesicht war von einer dicken Schicht weißen Puders bedeckt, ihre Wangen waren mit Rouge geschminkt, und ihre dünnen Lippen glänzten von blutroter
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