Der Verrat
Yoshiwara. Wir gingen zum Tor, und ich sagte zu einem der Posten: ›Ich will meine Tochter verkaufen.‹ Daraufhin holte der Mann die Bordellbesitzer herbei, die über den Preis für Wisterie in Streit gerieten, weil sie so hübsch war. Schließlich verkaufte ich sie an den Mann, der die höchste Summe für sie bot. Es war sehr viel Geld. Ich war sicher, dass Wisterie niemals so viel verdienen würde, sodass sie für immer in Yoshiwara bleiben müsse. Als der Mann mit ihr durchs Tor ging, flehte sie meinen Gemahl an, sie nicht im Stich zu lassen. Sie verfluchte mich und schrie, dass es mir noch Leid tun würde, was ich getan hätte, doch ich kümmerte mich nicht weiter um sie und ging davon. Mein Gemahl folgte mir, und wir reisten nach Hause.«
Reiko war zutiefst angewidert. Was Frau Yue getan hatte, war nicht mit den Verzweiflungstaten armer Bauern zu vergleichen, die ihre eigenen Kinder verkauften, weil ihnen das Geld fehlte, sie großzuziehen. Diese mittellosen Familien gaben ihre Kinder schweren Herzens her, da sie von den Bordellen Essen, Kleidung und eine Unterkunft bekamen, während Frau Yue ohne jede wirtschaftliche Not versucht hatte, Wisterie zu einem Leben als Prostituierte zu verdammen. Reiko warf O-hana einen Blick zu. O-hana nickte selbstgefällig, als wollte sie sagen: Ich habe Euch ja gesagt, dass Lügen sich besser anhören als die Wahrheit. Wisterie musste sich eine neue Lebensgeschichte ausgedacht haben, um den Leuten nicht gestehen zu müssen, dass sie selbst für ihre Schande verantwortlich war und dass ihre eigene Mutter in der Schlacht um den Mann gesiegt hatte, den sie beide begehrten. Reiko fragte sich, welche möglichen Auswirkungen Wisteries Unwahrheiten auf den Mordfall haben könnten, gelangte jedoch zu keinem Ergebnis. Zumindest deutete alles darauf hin, dass Wisterie eine kompliziertere Frau war, als Reiko und Sano bisher geglaubt hatten.
Ein Mann im dunklen, eleganten Baumwollumhang eines wohlhabenden Kaufmanns steckte den Kopf durch die Tür zum Gesellschaftszimmer. Als Frau Yue ihn erblickte, legte sich ein Ausdruck der Verlegenheit auf ihr Gesicht. »Mein lieber Gemahl!«, sagte sie. »Du kommst heute früh nach Hause.« Nervös stellte sie ihm Reiko vor.
Beide verbeugten sich voreinander und murmelten höfliche Begrüßungsfloskeln. Reiko bemerkte, dass der Mann einige Jahre jünger war als seine Gemahlin und obendrein gut aussah. Sein schüchternes Auftreten ließ auf einen Mangel an Durchsetzungsvermögen schließen, und Reiko spürte, dass er sich stets jenen Menschen unterwerfen würde, die einen stärkeren Willen besaßen als er. Bei der Auseinandersetzung mit ihrer übermächtigen Mutter hatte Wisterie von diesem Mann keine Hilfe erwarten können.
Nach der knappen Begrüßung zog der Mann sich zurück. Mehrere Sekunden verstrichen in unbehaglichem Schweigen, wobei Frau Yue unruhig die Hände wrang. Schließlich sagte sie: »Ich rede nicht gern über die Vergangenheit, wenn mein Gemahl in der Nähe ist.« Sie bedachte Reiko mit einem gekünstelten Lächeln. »Nun, jedenfalls danke ich Euch für die Ehre Eures Besuchs. Ich hoffe, Ihr habt eine angenehme Heimreise.«
Sie war offensichtlich darauf bedacht, Reiko loszuwerden. Reiko bedankte sich bei Frau Yue für die Zusammenarbeit und ließ sich zur Tür geleiten, begleitet von O-hana. Noch immer war der Nachmittag kalt und trist; die Feuchtigkeit in der Luft kondensierte zu winzigen eisigen Tropfen, die in Reikos Gesichtshaut stachen. Bevor sie in die Sänfte stieg, blieb sie noch einmal stehen und drehte sich zu Frau Yue um.
»Habt Ihr Eure Tochter an jenem Tag in Yoshiwara zum letzten Mal gesehen?«, erkundigte sie sich.
Frau Yue kniff die Lippen zusammen. »Ich wollte, es wäre so. Doch vor ungefähr vier Jahren kam Wisterie hierher zurück.«
»Tatsächlich?«, fragte Reiko erstaunt. »Wie hat sie das angestellt?«
Es war den Kurtisanen untersagt, Yoshiwara zu verlassen, mit einer Ausnahme: Eine tayu durfte nach Hause, um ihre todkranken Eltern zu besuchen – und das war bei Wisterie nicht der Fall gewesen.
»Ich kam vom Einkaufen nach Hause«, erzählte Frau Yue, »als ich Wisterie in meinem Gemach antraf. Sie war eine erwachsene, wunderschöne Frau geworden und trug die feinsten Gewänder.« Wieder erschien der hasserfüllte Ausdruck auf Frau Yues Gesicht. »Ich habe sie dabei ertappt, wie sie meine Kleider mit einem Messer zerschnitt. Auf dem Boden um Wisterie herum lag bereits ein Berg Stofffetzen.«
»Ich
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