Der Verrat
Farbe. Über ihren ungewöhnlich großen runden Augen wölbten sich aufgemalte Brauen. Ihr leuchtend roter Kimono mit Blumenmuster hätte besser zu einer jungen Dame gepasst; deshalb besaß das Äußere der Frau die gleiche vulgäre, aufdringliche Ausstrahlung wie das Gesellschaftszimmer.
»Willkommen, ehrenwerte Dame!« Die Frau verneigte sich vor Reiko und lächelte so breit, dass sie ihre Zähne entblößte, die kosmetisch geschwärzt waren, wie es sonst nur bei verheirateten adeligen Damen üblich war. O-hana schenkte sie keinerlei Beachtung. »Welch unerwartete Ehre!«
»Erlaubt mir, Euch Frau Yue -san vorzustellen«, sagte O-hana zu Reiko und blickte gekränkt drein, da ihre Gastgeberin sie ignorierte.
Frau Yue kniete sich Reiko gegenüber und bot Erfrischungen an; Hausmädchen servierten Tee und feines Gebäck auf kostbarem Geschirr. Inzwischen hatte Reiko sechs Dienerinnen gezählt. Wenn diese Familie ein so teures und luxuriöses Leben führen konnte, stellte sich die Frage, weshalb sie dann nicht für den Unterhalt einer Tochter hatte sorgen können. War dies wirklich Wisteries Zuhause gewesen?
Während Reiko und O-hana aßen und von den Getränken nippten, unterhielt Frau Yue sich mit Reiko über das Wetter, wobei sie affektiert redete und aufgesetzt lächelte. Schließlich fragte sie: »Darf ich fragen, was Euch zu mir geführt hat?«
»Ich bin wegen Eurer Tochter gekommen«, antwortete Reiko.
Das Lächeln der Frau verschwand, und missbilligend presste sie die dünnen Lippen zusammen. »Meine Tochter ist nicht da. Es sind viele Jahre vergangen, seit sie in diesem Haus gewohnt hat.«
»Eure Tochter ist Wisterie, die Kurtisane, nicht wahr?«, sagte Reiko, um sicherzugehen, dass sie von ein und derselben Person redeten.
Frau Yue wandte den Blick ab und nickte.
»Ihr wisst, dass sie in jener Nacht aus Yoshiwara verschwunden ist, als der Erbe des Shōgun ermordet wurde?«
Wieder nickte Frau Yue. Sie verschränkte die zierlichen Hände ineinander, hob sie vor den Busen und starrte finster vor sich hin.
»Mein Gemahl muss Wisterie unbedingt finden«, fuhr Reiko fort. »Ich dachte, Ihr könntet uns vielleicht helfen.«
»Ich habe Wisterie seit langer Zeit nicht zu Gesicht bekommen, und ich weiß auch nicht, wo sie jetzt ist«, sagte Frau Yue. Alle Geziertheit war von ihr abgefallen, jetzt sprach sie in normalem Tonfall, der ihre gewöhnliche Herkunft verriet. »Aber es wundert mich nicht, dass sie in Schwierigkeiten steckt. Falls Ihr sie findet, richtet ihr bitte aus, dass sie von mir keine Hilfe zu erwarten hat.«
Wenngleich Reiko enttäuscht war, dass ihre Reise keine neuen Erkenntnisse über Wisteries Aufenthaltsort erbracht hatte – Frau Yues Gleichgültigkeit, ja, ihre ganze Einstellung versetzte sie in Erstaunen. Anscheinend hatte es Probleme zwischen Wisterie und ihrer Mutter gegeben.
»Vielleicht kann ich Hinweise auf den Verbleib Eurer Tochter entdecken, wenn Ihr mir von ihr erzählt«, sagte Reiko.
Um Frau Yues Mund zuckte es, und ihre Blicke huschten unruhig umher. Es schien, als wäre sie darauf bedacht, ja nicht über Wisterie zu reden, wollte zugleich aber vermeiden, die Gemahlin des sōsakan-sama zu verärgern. Sie seufzte resigniert und sagte: »Also gut.«
»Wie ist Wisterie zur Kurtisane geworden?«, fragte Reiko.
»So etwas kommt in unserer Familie für gewöhnlich nicht vor«, stieß Frau Yue hervor. »Aber sie hatte es nicht anders verdient. Ich bin froh, sie an das Bordell verkauft zu haben!«
Reiko war sprachlos. Diese Frau hatte die eigene Tochter freiwillig einem Leben in Schmach und Schande preisgegeben.
»Als sie ein kleines Mädchen war, habe ich sie sehr geliebt«, sagte Frau Yue rechtfertigend, doch in ihren Augen schimmerten Tränen der Reue. »Dann aber wurde sie immer boshafter und undankbarer. Dabei habe ich alles für sie getan! Ich war stets gut zu ihr und habe ihr schöne Kleider gekauft! Doch sie hat mir meine Güte mit Schlechtigkeit vergolten.«
Frau Yue zog wütend die Nase hoch und wischte sie mit dem Ärmel ihres Kimonos ab. »Es fing an, als sie dreizehn war, nach dem Tod ihres Vaters. Er war Werftarbeiter und hatte sich eines Tages bei der Arbeit am Bein verletzt. Die Wunde entzündete sich, und er starb. Ich wusste nicht, wie ich Wisterie und mich durchbringen sollte, denn wir hatten kein Geld. Dann aber bot der Reedereibesitzer mir eine Stelle als Dienstmädchen an. Ich durfte sogar Wisterie mit in sein Haus nehmen, damit sie bei mir leben und
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