Der Verrat Der Drachen: Roman
wusste nicht, wozu sie jetzt noch eine Mutter brauchte. Was sollten sie tun? Sie waren einander fremd, außerdem hatte sie Tuon und Tallis.
Ruhelos stand sie auf und ging zur Tür. Sie brauchte frische Luft. Sie ging in den Garten und spazierte zwischen den Obstbäumen hindurch. Die Erde unter ihren Füßen war durchweicht und die Luft unstet; sie roch nach Feuchtigkeit und abgefallenen Blüten. Shaan wandelte hin und her, tief in Gedanken versunken; der Rock ihres Kleids wurde nasser und nasser, und fast hätte sie Balkis nicht gehört, als er ihren Namen rief.
Sie blieb verblüfft stehen. Als sie sich umdrehte, sah sie, wie er auf sie zukam und sich bückte, um den tiefhängenden Ästen der Bäume auszuweichen. Ihr Herz machte einen Satz und pochte heftig in ihrer Brust. Sie hatte vergessen, dass er hatte kommen wollen.
»Wie hast du mich gefunden?«, fragte sie, als er sie erreichte.
Er lächelte. »Ich habe eine Weile gebraucht; man sagte mir, du wärst wahrscheinlich noch drinnen bei der Führerin. Sie war nicht gut gelaunt, als ich hereinschaute, um zu fragen.«
»Es wundert mich, dass du überhaupt durch die Tür gekommen bist«, sagte Shaan. »Sie hat sich mit dem Rat getroffen.«
Er nickte. »Das erklärt einiges.« Sein Blick wandte sich ihren Kleidern zu. »Hübsches Kleid.« Er zog eine Augenbraue hoch; seine Lippen zuckten.
»Nilahs Idee.« Sie klopfte den Rock ab. »Sie sagt, ich muss für den Palast und die Ratssitzungen angemessen gekleidet sein.«
»Woher wusste ich, dass du das sagen würdest?« Er wirkte amüsiert.
»Vielleicht, weil es wahr ist.«
Er wies auf den Pfad. »Gehen wir spazieren?«
»Ich denke schon.«
Er trat zurück, um sie als Erste zwischen zwei eng nebeneinander wachsenden Ästen hindurchtreten zu lassen, und dann gingen sie Seite an Seite zwischen den duftenden Bäumen entlang. Es fühlte sich seltsam an, mit ihm im Garten des Palasts der Führerin spazieren zu gehen. »Was ist los?«, fragte er.
»Nichts.«
Er lachte leise. »Du findest das hier seltsam«, sagte er, »sich so zu treffen.«
»Ich dachte, ein anderer Ort wäre besser.«
Er sah zu, wie seine Stiefel durchs nasse Gras streiften. »Was schlägst du vor? Sollen wir uns im zentralen Hof treffen, wo andere sind? Würdest du dich dann sicherer fühlen?«
»Sicherer vor wem?«, fragte Shaan. »Vor dir oder vor anderen Leuten?«
Er sah sie mit einem Lächeln von der Seite her an und beugte sich zu ihr, um einen tiefhängenden Zweig beiseitezuschieben. »Wenn du meine Hilfe in Palastangelegenheiten willst, können wir uns nicht in aller Öffentlichkeit treffen; dort lauschen zu viele Ohren. Ich bin mir sicher, dass es dem Rat nicht recht wäre, zu hören, dass du geheime Sitzungsangelegenheiten mit mir durchsprichst.«
»Vermutlich nicht.«
Seine Hand berührte sie leicht im Kreuz, als sie voranging, und Shaan hatte vage das Gefühl, sorgsam in die Enge getrieben zu werden, war sich aber nicht sicher, wie sie dagegen angehen sollte.
»Also«, sagte er, wieder neben ihr, »was ist bei deiner ersten Sitzung geschehen?«
»Nach allem, was ich gesehen habe, hat unsere Führerin wenig bis gar keine Kontrolle über ihren Rat, und dieser fette Kerl, Lorgon, will sicherstellen, dass es so bleibt.«
»Klingt ganz nach Lorgon.« Sein Tonfall war trocken vor Abneigung.
»Kennst du ihn?«
Er lächelte ohne Heiterkeit. »Das könnte man so sagen. Unsere Familien schätzen einander nicht. Ratsherr Festus Lorgon und seine Angehörigen haben wenige Interessen außer Macht und Reichtum.«
Shaan spürte, dass es bei der Feindschaft um mehr ging als nur um abweichende Interessen, aber Balkis ging nicht in die Einzelheiten. Donner grollte irgendwo über ihnen, und sie blieben beide stehen. Shaans Haar wirbelte hoch, als eine kühle Brise sich regte und dann wieder zum Erliegen kam, und sie sah einen Blitz den Himmel über den Hügeln durchzucken. Im Binnenland zog ein Unwetter auf.
Sie sog tief die plötzlich kühlere Luft ein. »Ich liebe dieses Wetter«, sagte sie, ohne nachzudenken. »Den Moment, bevor der Sturm losbricht.«
Balkis stand sehr nahe bei ihr. »Ich auch. Es ist das Vorgefühl. All diese Energie in der Luft, die wartet.« Sie schaute zu ihm auf. Ringsum herrschte brütende Stille, und dicke Wolken hatten das Licht zu abendlicher Sanftheit gedämpft. Seine blauen Augen waren im schwächer werdenden Licht dunkler, und sie spürte, wie ein atemloser Schauer zwischen ihnen hin und her ging. Der Moment
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