Der Verrat: Thriller (German Edition)
die entgegengesetzte Richtung. Es ist, als seien ihre Rezeptoren permanent geschwächt, so dass sie sich nicht erlauben können, sich auf ein anderes Individuum zu verlassen. Zuerst glaubte ich, Scarlett gehöre zu dieser Gruppe und eine Verbindung mit ihr könne niemals mehr als oberflächlich sein, egal, wie sehr ich mich bemühte, eine Beziehung zu ihr aufzubauen. Es war frustrierend, denn die kurzen Blicke hinter die Maske hatten mich persönlich und beruflich fasziniert.
Aber ich hatte Scarlett falsch eingeschätzt. Am Ende unserer neun gemeinsam verbrachten Tage kam es mir vor, als hätten wir die ersten Schritte zu einer erstaunlichen Freundschaft zurückgelegt. Im Interesse des entstehenden Buches hatte ich zunächst meine übliche Haltung eingenommen und beiseitegelassen, was ich von ihr hielt. Am Ende fand ich aber, dass ich sie tatsächlich mochte. Diese Zuneigung änderte nichts an Scarletts Wesen. Sie war ungebildet, dreist und abgeschnitten von jeglichen Wurzeln. Aber ehrlich gesagt, wie hätte sie anders sein können bei den schlechten Karten, die sie gezogen hatte?
Scarlett war jedenfalls viel klüger, als sie merken ließ, wenn sie die Kameras auf sich gerichtet sah. Sie war sich durchaus der unangenehmen Fakten ihres Lebens bewusst und versuchte insgeheim, wenn niemand hinschaute, diese Dinge zu ändern. Eines Morgens kam ich früher als erwartet und erwischte sie dabei, dass sie sich im Fernsehen eine historische Doku anschaute. Als sie einmal den Raum verlassen hatte, schaltete ich ihr iPad an und fand heraus, dass sie ein Buch über Michelle und Barack Obama las. Eines Abends gab es eine Verwechslung bei dem für sie gebuchten Wagen, und ich fuhr sie zum Flughafen London-Stansted hoch; als ich von Radio 4 zu etwas Leichterem wechseln wollte, sagte sie ganz beiläufig, ich solle es doch anlassen. Es war nicht gerade eine Geschichte wie in Shaws Pygmalion, aber es war interessant.
Ich bewunderte sie deswegen. Außerdem hielt ich ihr zugute, dass sie sich von ihrer Herkunft nicht hatte zerstören lassen. Es schien, dass alle anderen, von denen sie während ihrer Kindheit und Jugend umgeben gewesen war, entweder süchtig waren oder hinter Gittern saßen. Oder beides. Alkohol, Drogen und Gewalttätigkeit waren die Ketten, die ihrer Familie und ihren Nachbarn die Hände banden. Irgendwie hatte Scarlett die unnachgiebige Kraft gefunden, einen anderen Weg zu wählen. Selbst Joshu war eigentlich nicht der Dreckskerl, der er zu sein schien; vorausschauend hatte ich das Gefühl, dass seine gute, bürgerliche Erziehung wieder an die Oberfläche kommen würde, sobald er nicht mehr mit den harten Jungs spielte. Ich bin ganz gut darin, mich in die Lage anderer Leute zu versetzen; aber ich konnte mir nicht vorstellen, welche Stärke Scarlett hatte aufbieten müssen, um aus ihrem zermürbenden, fürchterlichen Leben in Leeds auszubrechen.
Scarlett hatte in ihrem eigenen Leben etwas bewirkt. Es war meine Aufgabe, ihr dabei zu helfen, wenn sie der Welt – und dem Kind, für das dieses Buch geschrieben werden sollte – zeigte, wie viel stahlharte Energie hinter ihrer Unverschämtheit steckte.
9
S tephanies Beschreibung von Scarlett Higgins schien Vivian McKuras nicht zu beeindrucken. Aber bevor sie ihr Urteil fällen konnte, meldete sich ihr Telefon. »Ich bin gleich wieder da«, sagte sie und ging auf die Tür zu, ohne sich noch einmal umzusehen.
»Abbott«, sagte sie, als sie den Verhörraum verlassen hatte. »Danke, dass Sie sich melden.«
Sie hatte ihre Nachricht an ihre beiden Kollegen so zurückhaltend wie möglich formuliert. Beide waren genau genommen höherrangig als sie, aber sie war entschlossen, an ihrer führenden Rolle in diesem Ermittlungsverfahren festzuhalten. Ihr Ehrgeiz hatte sie einerseits fast hoffen lassen, dass sie sich nicht melden würden, aber ihr menschlicher Anstand machte ihr bewusst, dass sie Hilfe bei den praktischen Details brauchen würde. Von den zwei im internationalen Flughafengebäude stationierten Agenten war Don Abbott derjenige, von dem sie sich erhofft hatte, dass er ihre Nachricht zu der Kindesentführung beantworten würde. Er war klug und scharfsinnig, aber vor allem behandelte er Vivian genauso wie seine männlichen Kollegen. »Was brauchen Sie?«, fragte er. »Den Notalarm haben Sie ja schon in Gang gesetzt, sehe ich. Haben Sie Spuren, denen man nachgehen muss?«
»Es ist nicht so einfach.« Dies zuzugeben fiel ihr zwar nicht leicht, aber zumindest würde
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