Der Verrat: Thriller (German Edition)
herauszubekommen, ob mir klar war, dass meine Wohnung zerstört worden war, und wenn ja, ob ich ihn dafür verantwortlich machte. Ich meine, er musste ja zumindest etwas besorgt sein, dass ich ihn anzeigen würde.«
Wieder hatte Stephanie sie auf dem falschen Fuß erwischt. Sie hatte da eine äußerst kluge Frau vor sich, dachte Vivian. Ihre Geschichten mochten weit ausholend sein, aber ihre Schilderung enthielt viele nützliche Aussagen. »Das ist einleuchtend«, gab sie zu. »Wie haben Sie auf diese SMS reagiert?«
»Ich habe sie ignoriert. Die meisten las ich gar nicht. Zuerst löschte ich sie, aber Scarlett erklärte mir, wenn ich zur Polizei gehen müsse, seien sie Beweis dafür, dass er mich belästigte. Also ließ ich sie auf meinem Handy, beachtete sie aber nicht. Dann fing er an, auch E-Mails zu schicken. Gekränkte, verwirrte E-Mails, in denen er so tat, als wisse er nicht, warum ich ihn ignorierte, wo doch sein einziges Verbrechen sei, dass er mich liebte.« Sie verdrehte die Augen und stöhnte. »Ich bin sicher, Sie haben so etwas schon öfter gesehen.«
Vivian nickte. Eine Anmerkung, sie habe so etwas meistens nach einem gewalttätigen Tod erlebt, würde wohl kaum helfen, dachte sie. »Ich kann es mir vorstellen. Und haben Sie die Polizei benachrichtigt?«
»Ich glaubte nicht, dass es etwas bringen würde. Oberflächlich betrachtet, war nichts Drohendes an seinen SMS und E-Mails. Außer der unglaublichen Menge, meine ich. Scarlett sagte, ich sollte mit der Polizei reden, aber ich dachte, dort würde man mich nicht ernst nehmen. Weil es ja anscheinend keine Drohung gab.«
»Hat sich das geändert?«
»Nachdem er meine Wohnung zerstört hatte, blieb ich vier oder fünf Tage bei Scarlett. Offen gesagt, graute mir davor, nach Hause zurückzugehen. Meine Erinnerung an das, was er getan hatte, war zu plastisch. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass eine Reinigungsfirma viel tun konnte, um dieses Bild zu verwischen. Aber ich irrte mich. Scarlett hatte die Wohnung nicht nur reinigen lassen. Eines Tages, als ich dachte, sie sei im Fernsehstudio, hatte sie eine überfallartige Einkaufstour bei John Lewis und Waitrose gemacht. Natürlich konnte sie nicht genau das beibringen, was ich verloren hatte, aber sie hatte verdammt gute Arbeit geleistet, um akzeptablen Ersatz zu finden. Kennen Sie die Theorie der Quantenphysiker über die Viele-Welten-Interpretation? Na ja, als ich meine Wohnung endlich wieder betrat, war es, als käme ich in eine parallele Version meines Hauses. Es fühlte sich genauso an, obwohl es jede Menge feine Unterschiede gab. Es war sehr eigenartig. Erst als ich nach oben kam, bemerkte ich wirklich große Unterschiede, denn da oben war Scarlett vorher nie gewesen. Aber sie hatte mit ihren Vermutungen nicht weit danebengelegen. Selbst wenn sie sich für etwas ganz anderes entschieden hatte als das, was ursprünglich da gewesen war, hatte sie Dinge ausgewählt, die ich mochte. Ich war so gerührt.«
Es ließ sich nichts einwenden gegen das, was Scarlett getan hatte. Und Vivian dachte sich, dass Pete, hätte er es erfahren, ausgerastet wäre. »Wusste Pete, was sie getan hatte?«
»Ich weiß nicht, ob ihm klar war, dass es auf Scarlett zurückging, aber er behielt das Haus offensichtlich ständig im Auge. In seinen E-Mails standen Dinge wie ›Du kannst die Spuren meiner Anwesenheit aus deiner Wohnung tilgen, aber du kannst mich nicht aus deinem Herzen löschen. Du weißt, dass du mich liebst, dem kannst du nicht entkommen. Du kannst andere Bilder an die Wand hängen, aber du wirst trotzdem mein Gesicht sehen, wenn du am Abend die Augen schließt.‹« Sie machte einen Moment die Augen zu, und Vivian sah die Anspannung auf ihrem Gesicht.
»Einerseits klingt das unglaublich romantisch«, sagte Vivian. »Liest man es anders, dann ist es bedrückend und bedrohlich. Ich kann verstehen, warum Sie das Gefühl hatten, Sie würden die Leute nicht dazu bringen können, Sie ernst zu nehmen. Haben Sie den Mut aufgebracht, wieder in Ihr Haus zu ziehen?«
Stephanie strich über den Rand ihrer Papptasse. »Ja. Und etwa zwei Wochen lang war es in Ordnung. Ich ging nicht viel weg, weil ich Interviews transkribierte. In dieser Phase arbeite ich sehr konzentriert. Ich sitze mit den Kopfhörern da und nehme die Außenwelt gar nicht wahr. Ich lasse mir Lebensmittel liefern, damit ich den Kokon der Erzählstimme meines Kunden nicht verlassen muss. Ich versenke mich total in seine Geschichte.« Ihr Gesicht
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