Der verruchte Spion
Und doch war es so.
Sein Stiefvater war einst sein Held gewesen. Groß und stolz und seinem Stiefsohn gegenüber hohe Anforderungen stellend, nachsichtig gegenüber seiner Tante und gefühllos gegenüber der Frau, die er geheiratet hatte, um einen Sohn zu bekommen.
Das Letzte, was Nathaniel von ihm gesehen hatte, war der breite, in feinstes Tuch gehüllte Rücken gewesen, den er Nathaniel voller Verachtung zugewandt hatte. Warum konnte er jetzt nicht das Gleiche tun?
Hilflos gegenüber seinem Verlangen, alles zu wissen, drehte sich Nathaniel um.
»Erzähl es mir.«
Willas Gedanken fuhren Achterbahn. Nathaniel hatte sie hierher gebracht und wie ein unerwünschtes Kätzchen fallen gelassen. Es gab so viel, was er ihr nicht erzählt hatte.
Wer war die Familie? Nur mit größter Mühe konnte sie der Zofe die Frage stellen.
»Warum? Lord Reardons Verwandtschaft, wer sonst?«, sagte Lily leicht irritiert, während sie Willas Rücken mit geschulten Händen schrubbte.
Warum waren sie hier?
»Nun, wo sonst sollten sie denn wohnen?« Lily war jetzt zutiefst verunsichert. Argwohn breitete sich in ihr aus, ob die Dame, der sie gerade behilflich war, noch recht bei Trost war. Willa beschloss, keine Fragen mehr zu stellen, bevor sie das Mädchen gänzlich verwirrte. Antworten wären schön, aber im Augenblick war es noch besser, sich verwöhnen zu lassen.
Außerdem schien Willa nicht die richtigen Fragen zu stellen.
Nach dem wunderbarsten Bad ihres Lebens erwog Willa, ihr Nachthemd aus Spitze anzuziehen, entschied sich nach kurzem Zögern dann aber doch für das flanellene. Lily kam mit vollen Armen in das Zimmer zurück. Verwirrt beobachtete Willa, wie die Zofe eine Kreation aus dunkelblauer Seide und cremefarbener Spitze auf dem Bett ausbreitete.
Willa ließ einen Finger über den Ärmel wandern, dann schaute sie das Mädchen fragend an.
»Es gehört doch Euch, nicht wahr, Miss?« Die Zofe schaute irritiert auf das Kleid.
Willa schüttelte den Kopf.
»Nun, Seine Lordschaft sagte, es sei für Euch, und ich solle es fertig machen, damit Ihr es morgen Abend tragen könnt.«
Wo kam es her? Wann hatte Nathaniel Zeit gehabt, ein Kleid für sie zu kaufen?
Das Mädchen dachte, sie schweige aus Missbilligung, und beeilte sich deshalb zu sagen: »Ich weiß, dass es ein bisschen zu vornehm aussieht, um beim Abendessen im Kreis der Familie getragen zu werden, aber es werden sehr wichtige Gäste erwartet, darunter auch Sir Danville.«
Willa schluckte. Ein Lord und ein Ritter. Nun, sie verkehrte inzwischen in erlauchten Kreisen, nicht wahr? Moira wäre begeistert.
Willa beäugte noch einmal das Kleid. Noch nie in ihrem Leben hatte sie so etwas getragen. Es war göttlich. Sie streckte die Hand aus und strich ein zweites Mal über die Seide. Sie fühlte sich unter ihren Fingern an, als würde sie zerfließen. Ein mädchenhafter Teil ihres Herzens sehnte sich danach, es anzuziehen.
Warum also zögerte sie?
Zum ersten Mal kam ihr der Gedanke, dass Nathaniel sich ihrer schämen könnte. Schließlich war er Frauen gewöhnt, die ständig solche Kleider trugen. Frauen mit zarten, glatten Händen, die sticken konnten und aufs Lieblichste das Pianoforte spielten. Dinge also, die Willa nie die Möglichkeit hatte zu erlernen.
Sie wollte das schöne Kleid tragen – aber nicht, wenn er sie darin zu verstecken suchte.
Langsam ergriff sie es am Mieder und hielt es sich vor. Sie war nicht überrascht, dass der Saum auf dem Boden schleifte. Sie war nicht besonders groß.
»Oje, Miss. Das muss geändert werden. Ich hole besser meine Nadeln.« Lily eilte davon.
Willa seufzte. Es sah ganz danach aus, als stehe ihr eine Anprobe bevor. Dabei wollte sie sich doch nur auf dieses luxuriöse Bett niederlegen und endlich in den Schlaf fallen, der sie schon so lange umgarnte. Mit einem Mal machten sich die Strapazen der Reise bemerkbar, und sie sehnte sich nach Erholung.
Behutsam legte sie das blaue Kleid auf einen überquellenden Sessel und setzte sich aufs Bett, um zu warten. Sie sank tief ein und zitterte, so sehr verlangte es sie nach Schlaf. Unwillkürlich fielen ihr die Augen zu, und ihr Rückgrat löste sich in Erschöpfung auf.
Als sie, ohne es wirklich zu wollen, auf das Kissen sank, blitzte ein Gedanke in ihrem Kopf auf: Sie war eine verheiratete Frau, warum schlief sie dann nicht bei ihrem Mann?
Nathaniel lehnte schweigend am Bettpfosten und beobachtete den einzigen Vater, den er je gekannt hatte, beim Schlafen. Das Gesicht
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