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Der verruchte Spion

Der verruchte Spion

Titel: Der verruchte Spion Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Celeste Bradley
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auf dem Kissen war nicht dasselbe, dem Nathaniel jeden Morgen seiner Kindheit beim Frühstück gegenübergesessen hatte. Dieses Gesicht hier sah aus wie die hagere Karikatur desselben.
    Sein Vater war ein Riese. Dieser Mann hier war ein Skelett.
    Sein Vater war stark und eigenwillig. Dieser Mann hier schwach und teilnahmslos.
    Wie konnte er sich innerhalb weniger Monate so sehr verändern? Welche Krankheit konnte alles Leben so schnell aus ihm herausgesogen haben?
    »Es war das Herz.« Die Stimme hinter Nathaniel war ihm nur allzu bekannt.
    Nathaniel drehte sich nicht um. »Hallo, Simon.«
    »Nathaniel.«
    »Was tust du hier? Müsstest du nicht junge Seelen korrumpieren, damit sie bei diesem Haufen von Dieben mitmachen, den du den Liar’s Club nennst?«
    »Um ehrlich zu sein, denke ich, dass sie mich korrumpieren. Aber ich bin hier, weil deine Kameraden mich darum gebeten haben.« Simon trat an ihn heran. »Im Grunde wurde ich geschickt, damit ich auf dich warte. Ich habe ihnen
bereits mitteilen lassen, dass du angekommen bist. Und ich bin als Freund der Familie gekommen, um bei dem alten Mann zu wachen.« Er verschränkte die Arme vor der Brust und betrachtete den Mann auf dem Bett. »Ich weiß, woran du denkst.«
    Nathaniel hatte sich noch nicht umgedreht, um dem Fast-Bruder in die Augen zu schauen, dem er nie im Leben gerecht werden konnte. »Das bezweifle ich.«
    »Aber es ist so. Ich weiß es, weil ich es jedes Mal selbst denke, wenn ich dieses Krankenzimmer betrete. Du denkst, dass das nicht er ist. Dass das eine Verwechslung sein muss, ein übler Scherz, denn das hier kann doch unmöglich derselbe Mann sein, der neun Fuß groß war und ein Dutzend Pferde stemmen konnte.«
    »Zehn.«
    »Was?«
    »Er war zehn Fuß groß«, flüsterte Nathaniel.
    Simon stellte sich neben ihn. »Ja. Zehn«, stimmte er leise zu.
    Zum ersten Mal in seinem Leben schaute Nathaniel den Mann an, den er für lange Zeit für einen Eindringling gehalten hatte, und fühlte sich von ihm verstanden.
    Dann wurde Simon wieder zu dem, den er kannte. »Es ist schön, dich zu sehen, Nate, aber ich hoffe, du beabsichtigst nicht zu bleiben. Du willst deine Tarnung doch nicht gefährden.«
    Nathaniel zog einen Mundwinkel hoch. Einige Dinge änderten sich nie. »Du hast mir gar nichts zu befehlen, Magier!«
    Simons Gesichtsausdruck war unbezahlbar. Nathaniel konnte sehen, dass sein alter Rivale vergessen hatte, mit wem er sprach. Die Kobra empfing keine Befehle von dem ehemaligen oder derzeitigen Führer des Liar’s Club. Die Kobra empfing noch nicht einmal Befehle vom Prinzregenten.

    Simons Lippen zuckten. »Nein, Mylord. Das habe ich nicht.« Er verbeugte sich. »Betrachtet mich als äußerst angemessen auf meinen Platz verwiesen, Mylord.«
    Simon war nicht der Feind. War es nie gewesen. Nathaniel stieß einen Seufzer aus, der in einem gequälten Lachen endete. »Betrachtet mich als äußerst angemessen für mein rüdes Verhalten bestraft.«
    »Du hast nichts von mir zu befürchten, Nate«, sagte Simon sanft. »Ich weiß Bescheid.«
    Nathaniel nickte und trat dann näher an den auf dem Bett liegenden Mann heran. »Aber er weiß es nicht, nicht wahr?«
    Simon fuhr sich mit der Hand durchs Haar. »Du weißt, warum.«
    Wieder nickte Nathaniel.
    Er selbst hatte diesen teuflischen Handel vorgeschlagen. »Ich weiß, warum …« Seine Stimme versagte. Er schluckte schwer und schaute weg.
    Simons Hand ruhte für einen kurzen Augenblick auf seiner Schulter. Dann verließ er leise den Raum.
     
    Als Nathaniel wenig später aus dem Krankenzimmer trat, wurde er auf dem Flur vor der Tür von seiner Mutter erwartet. Sie war groß und blond wie er, aber damit hörte die Ähnlichkeit auch schon auf. Selbst in seiner vornehmsten Zeit hatte er nie die strenge, arrogante Eleganz erreicht, von der Victoria durchdrungen war. Noch hatte er es angestrebt. Er wünschte bei Gott, dass sein Blick nie diese eisige Starre annehmen würde.
    »Bist du gekommen, um uns alle noch mehr in Verlegenheit zu bringen?« Ihre Worte waren scharf, aber die Stimme, mit der sie gesprochen wurden, war so reich an einstudierter Melodik, dass sie sich anhörten wie die Schelte eines Engels.

    Nathaniel holte tief Luft. Dann lächelte er sie entschlossen an.
    »Hallo, Mutter.«
    »Nenn mich nicht so.«
    »Verzeiht, Madam. Wie überaus genau Ihr mich daran erinnert.«
    »Wenn du dich von mir und deinem Stiefvater fern halten würdest, wie du es versprochen hast, wäre das nicht

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