Der Verschollene
nämlich eine ganze lange Bank mit einem weißen Tuch gedeckt, alle Aufge- nommenen saßen mit dem Rücken zur Rennbahn auf der nächsttieferen Bank und wurden bewirtet. Alle wa- ren fröhlich und aufgeregt, gerade als sich Karl unbe- merkt als letzter auf die Bank setzte, standen viele mit erhobenen Gläsern auf und einer hielt einen Trink- spruch auf den Führer der zehnten Werbetruppe, den er den „Vater der Stellungsuchenden" nannte. Jemand machte darauf aufmerksam, daß man ihn auch von hier aus sehen könne und tatsächlich war die Schiedsrichter- tribüne mit den zwei Herren in nicht allzugroßer Ent- fernung sichtbar. Nun schwenkten alle ihre Gläser in dieser Richtung, auch Karl faßte das vor ihm stehende Glas, aber so laut man auch rief und so sehr man sich bemerkbar zu machen suchte, auf der Schiedsrichtertri- büne deutete nichts darauf hin, daß man die Ovation bemerkte oder wenigstens bemerken wolle. Der Führer lehnte in der Ecke wie früher und der andere Herr stand neben ihm, die Hand am Kinn.
Ein wenig enttäuscht setzte man sich wieder, hie und da drehte sich noch einer nach der Schiedsrichtertribüne um, aber bald beschäfigte man sich nur mit dem reichli- chen Essen, großes Geflügel, wie es Karl noch nie gese- hen hatte, mit vielen Gabeln in dem knusprig gebratenen Fleisch, wurde herumgetragen, Wein wurde immer wie- der von den Dienern eingeschenkt – man merkte es kaum, man war über seinen Teller gebückt und in den Becher fiel der Strahl des roten Weines – und wer sich an der allgemeinen Unterhaltung nicht beteiligen wollte, konnte Bilder von Ansichten des Teaters von Oklahama besichtigen, die an einem Ende der Tafel aufgestapelt waren und von Hand zu Hand gehen sollten. Doch kümmerte man sich nicht viel um die Bilder und so ge- schah es daß bei Karl, der der Letzte war nur ein Bild ankam. Nach diesem Bild zu schließen mußten aber alle sehr sehenswert sein. Dieses Bild stellte die Loge des Präsidenten der Vereinigten Staaten dar. Beim ersten Anblick konnte man denken, es sei nicht eine Loge, son- dern die Bühne, so weit geschwungen ragte die Brüstung in den freien Raum. Diese Brüstung war ganz aus Gold in allen ihren Teilen. Zwischen den wie mit der feinsten Scheere ausgeschnittenen Säulchen waren nebeneinander Medaillons früherer Präsidenten angebracht, einer hatte eine auffallend gerade Nase, aufgeworfene Lippen und unter gewölbten Lidern starr gesenkte Augen. Rings um die Loge, von den Seiten und von der Höhe kamen Strahlen von Licht; weißes und doch mildes Licht ent- hüllte förmlich den Vordergrund der Loge, während ihre Tiefe hinter rotem, unter vielen Tönungen sich fal- tendem Sammt der an der ganzen Umrandung niederfiel und durch Schnüre gelenkt wurde, als eine dunkle röt- lich schimmernde Leere erschien. Man konnte sich in dieser Loge kaum Menschen vorstellen, so selbstherrlich sah alles aus. Karl vergaß das Essen nicht, sah aber doch of die Abbildung an, die er neben seinen Teller gelegt hatte.
Schließlich hätte er doch noch sehr gern wenigstens eines der übrigen Bilder angesehn, selbst holen wollte er es sich aber nicht, denn ein Diener hatte die Hand auf den Bildern liegen und die Reihenfolge mußte wohl ge- wahrt werden, er suchte also nur die Tafel zu überblik- ken und festzustellen, ob sich nicht doch noch ein Bild nähere. Da bemerkte er staunend – zuerst glaubte er es gar nicht – unter den am tiefsten zum Essen gebeugten Gesichtern ein gut bekanntes – Giacomo. Gleich lief er zu ihm hin. „Giacomo", rief er. Dieser, schüchtern wie immer wenn er überrascht wurde, erhob sich vom Essen, drehte sich in dem schmalen Raum zwischen den Bän- ken, wischte mit der Hand den Mund, war dann aber sehr froh Karl zu sehn, bat ihn sich neben ihn zu setzen oder bot sich an zu Karls Platz hinüberzukommen, sie wollten einander alles erzählen und immer beisammen bleiben. Karl wollte die andern nicht stören, jeder sollte deshalb vorläufig seinen Platz behalten, das Essen werde bald zuende sein und dann wollten sie natürlich immer zu einander halten. Aber Karl blieb doch noch bei Gia- como, nur um ihn anzusehn. Was für Erinnerungen an vergangene Zeiten! Wo war die Oberköchin? Was mach- te Terese? Giacomo selbst hatte sich in seinem Äußern fast gar nicht verändert, die Voraussage der Oberköchin, daß er in einem halben Jahr ein knochiger Amerika- ner werden müsse, war nicht eingetroffen, er war zart wie früher, die Wangen eingefallen wie
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