Der Verschollene
auch sei- nerseits Herrn Pollunders Hände, er freute sich, den Ausflug machen zu können. „Hat sich der Onkel nicht darüber geärgert, daß ich fahre?" „Aber nein! Das hat er ja alles nicht so ernst gemeint. Ihre Erziehung liegt ihm eben am Herzen." „Hat er es Ihnen selbst gesagt, daß er das frühere nicht so ernst gemeint hat?" „O ja", sagte Herr Pollunder gedehnt und bewies damit, daß er nicht lügen konnte. „Es ist merkwürdig wie ungern er mir die Erlaubnis gegeben hat, Sie zu besuchen, trotzdem Sie doch sein Freund sind." Auch Herr Pollunder konnte, trotzdem er dies nicht offen eingestand, keine Erklärung dafür finden und beide dachten, als sie in Herrn Pollun- ders Automobil durch den warmen Abend fuhren, noch lange darüber nach, trotzdem sie gleich von andern Din- gen sprachen.
Sie saßen eng beieinander und Herr Pollunder hielt Karls Hand in der seinen, während er erzählte. Karl wollte vieles über das Fräulein Klara hören, als sei er ungeduldig über die lange Fahrt und könne mit Hilfe der Erzählungen früher ankommen als in Wirklichkeit. Trotzdem er am Abend noch niemals durch die New- yorker Straßen gefahren war, und über Trottoir und Fahrbahn, alle Augenblicke die Richtung wechselnd wie in einem Wirbelwind, der Lärm jagte, nicht wie von Menschen verursacht sondern wie ein fremdes Element, kümmerte sich Karl, während er Herrn Pollunders Wor- te genau aufzunehmen suchte, um nichts anderes als um Herrn Pollunders dunkle Weste, über die quer eine gol- dene Kette ruhig hieng. Aus den Straßen, wo das Publi- kum in großer unverhüllter Furcht vor Verspätung im fliegenden Schritt und in Fahrzeugen, die zu möglichster Eile gebracht waren, zu den Teatern drängte, kamen sie durch Übergangsbezirke in die Vorstädte, wo ihr Auto- mobil durch Polizeileute zu Pferd immer wieder in Sei- tenstraßen gewiesen wurde, da die großen Straßen von den demonstrierenden Metallarbeitern, die im Streik standen besetzt waren, und nur der notwendigste Wa- genverkehr an den Kreuzungsstellen gestattet werden konnte. Durchquerte dann das Automobil aus dunkle- ren, dumpf hallenden Gassen kommend, eine dieser gan- zen Plätzen gleichenden Straßen, dann erschienen nach beiden Seiten hin in Perspektiven, denen niemand bis zum Ende folgen konnte, die Trottoire angefüllt mit ei- ner in winzigen Schritten sich bewegenden Masse, deren Gesang einheitlicher war, als der einer einzigen Men- schenstimme. In der freigehaltenen Fahrbahn aber sah man hie und da einen Polizisten auf unbeweglichem Pferd oder Träger von Fahnen oder beschriebenen über die Straße gespannten Tüchern oder einen von Mitarbei- tern und Ordonanzen umgebenen Arbeiterführer oder einen Wagen der Elektrischen Straßenbahn, der sich nicht rasch genug geflüchtet hatte, und nun leer und dunkel dastand, während der Führer und der Schaffner auf der Platform saßen. Kleine Trupps von Neugierigen standen weit entfernt von den wirklichen Demonstran- ten und verließen ihre Plätze nicht trotzdem sie über die eigentlichen Ereignisse im Unklaren blieben. Karl aber lehnte froh in dem Arm, den Herr Pollunder um ihn gelegt hatte, die Überzeugung, daß er bald in einem be- leuchteten, von Mauern umgebenen, von Hunden be- wachten Landhause ein willkommener Gast sein werde, tat ihm über alle Maßen wohl, und wenn er auch wegen einer beginnenden Schläfrigkeit, nicht mehr alles was Herr Pollunder sagte fehlerlos oder wenigstens nicht oh- ne Unterbrechungen auffaßte, so rafe er sich doch von Zeit zu Zeit auf und wischte sich die Augen, um wieder für eine Weile festzustellen, ob Herr Pollunder seine Schläfrigkeit bemerke, denn das wollte er um jeden Preis vermieden wissen.
III Ein Landhaus bei New York
Wir sind angekommen", sagte Herr Pollunder gerade in einem von Karls verlorenen Momenten. Das Auto- mobil stand vor einem Landhaus, das, nach der Art von Landhäusern reicher Leute in der Umgebung New- yorks, umfangreicher und höher war, als es sonst für ein Landhaus nötig ist, das bloß einer Familie dienen soll. Da nur der untere Teil des Hauses beleuchtet war, konn- te man gar nicht bemessen, wie weit es in die Höhe reichte. Vorne rauschten Kastanienbäume, zwischen de- nen – das Gitter war schon geöffnet – ein kurzer Weg zur Freitreppe des Hauses führte. An seiner Müdigkeit beim Aussteigen glaubte Karl zu bemerken, daß die Fahrt doch ziemlich lang gedauert hatte. Im Dunkel der Kastanienallee hörte er eine Mädchenstimme
Weitere Kostenlose Bücher