Der Verschollene
spie- len, wacht noch oben in den Dachkammern die Diener- schaf auf." „Dann lasse ich also das Spiel, ich hoffe ja bestimmt noch wiederzukommen, übrigens, wenn es Ih- nen keine besondere Mühe macht, besuchen Sie doch einmal meinen Onkel und schauen bei der Gelegenheit auch in mein Zimmer. Ich habe ein prachtvolles Piano. Der Onkel hat es mir geschenkt. Dann spiele ich Ihnen, wenn es Ihnen recht ist, alle meine Stückchen vor, es sind leider nicht viele, und sie passen auch gar nicht zu so einem großen Instrument, auf dem nur Virtuosen sich hören lassen sollten. Aber auch dieses Vergnügen wer- den Sie haben können, wenn Sie mich von Ihrem Besuch vorher verständigen, denn der Onkel will nächstens ei- nen berühmten Lehrer für mich engagieren – Sie können sich denken wie ich mich darauf freue – und dessen Spiel wird allerdings dafür stehn, mir während der Unter- richtsstunde einen Besuch zu machen. Ich bin, wenn ich ehrlich sein soll, froh, daß für das Spiel schon zu spät ist, denn ich kann noch gar nichts, Sie würden staunen, wie wenig ich kann. Und nun erlauben Sie daß ich mich verabschiede, schließlich ist ja doch schon Schlafens- zeit." Und weil ihn Klara gütig ansah und ihm wegen der Rauferei gar nichts nachzutragen schien, fügte er lächelnd hinzu, während er ihr die Hand reichte: „In meiner Heimat pflegt man zu sagen: Schlafe wohl und träume süß."
„Warten Sie", sagte sie, ohne seine Hand anzuneh- men, „vielleicht sollten Sie doch spielen." Und sie ver- schwand durch eine kleine Seitentür, neben der das Pia- no stand. „Was ist denn?" dachte Karl, „lange kann ich nicht warten, so lieb sie auch ist." Es klopfe an die Gangtüre und der Diener, der die Türe nicht ganz zu öffnen wagte, flüsterte durch einen kleinen Spalt: „Ver- zeihen Sie, ich wurde soeben abberufen und kann nicht mehr warten." „Gehen Sie nur", sagte Karl, der sich nun getraute, den Weg ins Speisezimmer allein zu finden, „lassen Sie mir nur die Laterne vor der Tür. Wie spät ist es übrigens?" „Bald dreiviertel zwölf ", sagte der Diener. „Wie langsam die Zeit vergeht", sagte Karl. Der Diener wollte schon die Türe schließen, da erinnerte sich Karl, daß er ihm noch kein Trinkgeld gegeben hatte, nahm einen Schilling aus der Hosentasche – er trug jetzt immer Münzengeld nach amerikanischer Sitte lose klingelnd in der Hosentasche, Banknoten dagegen in der Westenta- sche – und reichte ihn dem Diener mit den Worten: „Für Ihre guten Dienste."
Klara war schon wieder eingetreten, die Hände an ih- rer festen Frisur, als es Karl einfiel, daß er den Diener doch nicht hätte wegschicken sollen, denn wer würde ihn jetzt zur Station der Stadtbahn führen? Nun, da würde wohl schon Herr Pollunder einen Diener noch aufreiben können, vielleicht war übrigens dieser Diener ins Speisezimmer gerufen worden und würde dann zur Verfügung stehn. „Ich bitte Sie also doch ein wenig zu spielen. Man hört hier so selten Musik, daß man sich keine Gelegenheit sie zu hören, entgehen lassen will." Dann ist aber höchste Zeit", sagte Karl ohne weitere Überlegung und setzte sich gleich zum Klavier. „Wollen Sie Noten haben?" fragte Klara. „Danke, ich kann ja Noten nicht einmal vollkommen lesen", antwortete Karl und spielte schon. Es war ein kleines Lied, das wie Karl wohl wußte ziemlich langsam hatte gespielt werden müssen, um besonders für Fremde auch nur verständlich zu sein, aber er hudelte es im ärgsten Marschtempo hin- unter. Nach der Beendigung fuhr die gestörte Stille des Hauses wie in großem Gedränge wieder an ihren Platz. Man saß wie benommen da und rührte sich nicht. „Ganz schön", sagte Klara, aber es gab keine Höflichkeitsfor- mel, die Karl nach diesem Spiel hätte schmeicheln kön- nen. „Wie spät ist es?" fragte er. „Dreiviertel zwölf." Dann habe ich noch ein Weilchen Zeit", sagte er und dachte bei sich: „Entweder oder. Ich muß ja nicht alle zehn Lieder spielen, die ich kann, aber eines kann ich nach Möglichkeit gut spielen." Und er fieng sein gelieb- tes Soldatenlied an. So langsam, daß das aufgestörte Ver- langen des Zuhörers sich nach der nächsten Note streck- te, die Karl zurückhielt und nur schwer hergab. Er muß- te ja tatsächlich wie bei jedem Lied die nötigen Tasten mit den Augen erst zusammensuchen, aber außerdem fühlte er in sich ein Leid entstehn, das über das Ende des Liedes hinaus, ein anderes Ende suchte und es nicht finden konnte.
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