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Der Verschollene

Der Verschollene

Titel: Der Verschollene Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Kafka
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zur nächsten Gastwirtschaf kom- me." „Aber rasch", sagte Green. „Sie machen mir nicht wenig Scherereien." Beim Anblick des großen Schrittes, den Green gleich gemacht hatte, stockte Karl, das war doch eine verdächtige Eile und er faßte Green unten beim Rock und sagte in einem plötzlichen Erkennen des wahren Sachverhaltes: „Eines müssen Sie mir noch er- klären. Auf dem Umschlag des Briefes, den Sie mir zu übergeben hatten, steht bloß, daß ich ihn um Mitter- nacht erhalten soll, wo immer ich angetroffen werde. Warum haben Sie mich also mit Berufung auf diesen Brief hier zurückgehalten, als ich um viertel zwölf von hier fort wollte? Sie giengen dabei über Ihren Aufrag hinaus." Green leitete seine Antwort mit einer Handbe- wegung ein, welche das Unnütze von Karls Bemerkung übertrieben darstellte, und sagte dann: „Steht vielleicht auf dem Umschlag daß ich mich Ihretwegen zu Tode hetzen soll und läßt vielleicht der Inhalt des Briefes dar- auf schließen, daß die Aufschrif so aufzufassen ist? Hät- te ich Sie nicht zurückgehalten, hätte ich Ihnen den Brief eben um Mitternacht auf der Landstraße übergeben müssen." „Nein", sagte Karl unbeirrt, „es ist nicht ganz so. Auf dem Umschlag steht ‚zu übergeben nach Mitter- nacht'. Wenn Sie zu müde waren, hätten Sie mir viel- leicht gar nicht folgen können, oder ich wäre, was aller- dings selbst Herr Pollunder geleugnet hat, schon um Mitternacht bei meinem Onkel angekommen oder es wäre schließlich Ihre Pflicht gewesen, mich in Ihrem Automobil, von dem plötzlich nicht mehr die Rede war, zu meinem Onkel zurückzubringen, da ich so danach verlangte, zurückzukehren. Besagt nicht die Überschrif ganz deutlich, daß die Mitternacht für mich noch der letzte Termin sein soll? Und Sie sind es, der die Schuld trägt, daß ich ihn versäumt habe."
       Karl sah Green mit scharfen Augen an und erkannte wohl wie in Green die Beschämung über diese Entlar- vung mit der Freude über das Gelingen seiner Absicht kämpfe. Endlich nahm er sich zusammen, sagte in ei- nem Tone, als wäre er Karl, der doch schon lange schwieg, mitten in die Rede gefallen: „Kein Wort wei- ter!" und schob ihn, der den Koffer und Schirm wieder aufgenommen hatte, durch eine kleine Tür, die er vor ihm aufstieß, hinaus.
    Karl stand erstaunt im Freien. Eine an das Haus ange- baute Treppe ohne Geländer führte vor ihm hinab. Er mußte nur hinunter gehn und dann sich ein wenig rechts zur Allee wenden, die auf die Landstraße führte. In dem hellen Mondschein konnte man sich gar nicht verir- ren. Unten im Garten hörte er das vielfache Bellen von Hunden, die losgelassen ringsherum im Dunkel der Bäume liefen. Man hörte in der sonstigen Stille ganz genau wie sie nach ihren großen Sprüngen ins Gras schlugen.
    Ohne von diesen Hunden belästigt zu werden, kam Karl glücklich aus dem Garten. Er konnte nicht mit Be- stimmtheit feststellen, in welcher Richtung Newyork lag, er hatte bei der Herfahrt zu wenig auf die Einzelhei- ten geachtet, die ihm jetzt hätten nützlich sein können. Schließlich sagte er sich, daß er ja nicht unbedingt nach New-York müsse, wo ihn niemand erwarte und einer sogar mit Bestimmtheit nicht erwarte. Er wählte also eine beliebige Richtung und machte sich auf den Weg.

    IV Der Marsch nach Ramses

    In dem kleinen Wirtshaus, in das Karl nach kurzem Marsche kam, und das eigentlich nur eine kleine letzte Station des Newyorker Fuhrwerkverkehrs bildete und deshalb kaum für Nachtlager benützt zu werden pflegte, verlangte Karl die billigste Bettstelle, die zu haben war, denn er glaubte mit dem Sparen sofort anfangen zu müs- sen. Er wurde seiner Forderung entsprechend vom Wirt mit einem Wink, als sei er ein Angestellter, die Treppe hinaufgewiesen, wo ihn ein zerraufes altes Frauenzim- mer, ärgerlich über den gestörten Schlaf, empfieng und fast ohne ihn anzuhören mit ununterbrochenen Ermah- nungen leise aufzutreten, in ein Zimmer führte, dessen Tür sie, nicht ohne ihn vorher mit einem Pst! angehaucht zu haben, schloß.
       Karl wußte zuerst nicht recht, ob die Fenstervorhänge bloß herabgelassen waren oder ob vielleicht das Zimmer überhaupt keine Fenster habe, so finster war es; schließ- lich bemerkte er eine kleine verhängte Luke, deren Tuch er wegzog, wodurch einiges Licht hereinkam. Das Zim- mer hatte zwei Betten, die aber beide schon besetzt wa- ren. Karl sah dort zwei junge Leute, die in schwerem Schlafe dalagen und vor allem deshalb wenig

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