Der Verschollene
Zusammenlebens schon erkannt haben wirst, bin ich durchaus ein Mann von Principien. Das ist nicht nur für meine Umgebung sondern auch für mich sehr unangenehm und traurig, aber ich verdanke meinen Principien alles was ich bin und niemand darf verlangen daß ich mich vom Erdbo- den wegleugne, niemand, auch Du nicht, mein geliebter Neffe, wenn auch Du gerade der erste in der Reihe wä- rest, wenn es mir einmal einfallen sollte, jenen allgemei- nen Angriff gegen mich zuzulassen. Dann würde ich am liebsten gerade Dich mit diesen beiden Händen mit de- nen ich das Papier halte und beschreibe, auffangen und hochheben. Da aber vorläufig gar nichts darauf hindeu- tet daß dies einmal geschehen könnte, muß ich Dich nach dem heutigen Vorfall unbedingt von mir fortschik- ken und ich bitte Dich dringend, mich weder selbst auf- zusuchen, noch brieflich oder durch Zwischenträger Verkehr mit mir zu suchen. Du hast Dich gegen meinen Willen dafür entschieden, heute Abend von mir fortzu- gehn, dann bleibe aber auch bei diesem Entschluß Dein Leben lang, nur dann war es ein männlicher Entschluß. Ich erwählte zum Überbringer dieser Nachricht Herrn Green, meinen besten Freund, der sicherlich für Dich genug schonende Worte finden wird, die mir im Augenblick tatsächlich nicht zur Verfügung stehn. Er ist ein einflußreicher Mann und wird Dich schon mir zu Liebe in Deinen ersten selbständigen Schritten mit Rat und Tat unterstützen. Um unsere Trennung zu begreifen, die mir jetzt am Schlüsse dieses Briefes wieder unfaßlich scheint, muß ich mir immer wieder neuerlich sagen: Von Deiner Familie, Karl, kommt nichts Gutes. Sollte Herr Green vergessen, Dir Deinen Koffer und Deinen Regenschirm auszuhändigen, so erinnere ihn daran. Mit besten Wün- schen für Dein weiteres Wohlergehn
Dein treuer Onkel Jakob.
„Sind Sie fertig?" fragte Green. „Ja", sagte Karl, „ha- ben Sie mir den Koffer und den Regenschirm mitge- bracht?" fragte Karl. „Hier ist er", sagte Green und stellte Karls alten Reisekoffer, den er bisher mit der li- ken Hand hinter dem Rücken versteckt hatte, neben Karl auf den Boden. „Und den Regenschirm?" fragte Karl weiter. „Alles hier", sagte Green und zog auch den Regenschirm hervor, den er in einer Hosentasche hän- gen hatte. „Die Sachen hat ein gewisser Schubal, ein Obermaschinist der Hamburg-Amerikalinie gebracht, er hat behauptet sie auf dem Schiff gefunden zu haben. Sie können ihm bei Gelegenheit danken." „Nun habe ich wenigstens meine alten Sachen wieder", sagte Karl und legte den Schirm auf den Koffer. „Sie sollen aber besser in Zukunf auf sie achtgeben, läßt Ihnen der Herr Se- nator sagen", bemerkte Herr Green und fragte dann of- fenbar aus privater Neugierde: „Was ist das eigentlich für ein merkwürdiger Koffer?" „Es ist ein Koffer, mit dem die Soldaten in meiner Heimat zum Militär einrük- ken", antwortete Karl, „es ist der alte Militärkoffer mei- nes Vaters. Er ist sonst ganz praktisch." Lächelnd fügte er hinzu: „Vorausgesetzt daß man ihn nicht irgendwo stehn läßt." „Schließlich sind Sie ja belehrt genug", sagte Herr Green, „und einen zweiten Onkel haben Sie in Amerika wohl nicht. Hier gebe ich Ihnen noch eine Kar- te Dritter nach San Francisko. Ich habe diese Reise für Sie beschlossen, weil erstens die Erwerbsmöglichkeiten im Osten für Sie viel bessere sind und weil zweitens hier in allen Dingen die für Sie in Betracht kommen könnten, Ihr Onkel seine Hände im Spiele hat und ein Zusam- mentreffen unbedingt vermieden werden muß. In Frisco können Sie ganz ungestört arbeiten, fangen Sie nur ruhig ganz unten an und versuchen Sie sich allmählich herauf- zuarbeiten."
Karl konnte keine Bosheit aus diesen Worten heraus- hören, die schlimme Nachricht, welche den ganzen Abend in Green gesteckt hatte, war überbracht und von nun an schien Green ein ungefährlicher Mann, mit dem man vielleicht offener reden konnte, als mit jedem an- dern. Der beste Mensch, der ohne eigene Schuld zum Boten einer so geheimen und quälenden Entschließung auserwählt wird, muß, solange er sie bei sich hält, ver- dächtig scheinen. „Ich werde", sagte Karl, die Bestäti- gung eines erfahrenen Mannes erwartend, „dieses Haus sofort verlassen, denn ich bin nur als Neffe meines On- kels aufgenommen, während ich als Fremder hier nichts zu suchen habe. Würden Sie so liebenswürdig sein, mir den Ausgang zu zeigen und mich dann auf den Weg zu führen, auf dem ich
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