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Der Verschollene

Der Verschollene

Titel: Der Verschollene Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Kafka
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irgendwie Schande gemacht habe und nach genau- er Untersuchung müßte das auch jeder andere finden."
      „Jeder andere", sagte der Oberportier und zeigte mit dem Finger auf den Oberkellner, „das ist eine Spitze gegen Sie, Herr Isbary."
      „Nun Frau Oberköchin", sagte dieser, „es ist halb sieben, hohe und höchste Zeit. Ich denke, Sie lassen mir am besten das Schlußwort in dieser schon allzu duldsam behandelten Sache."
      Der kleine Giacomo war hereingekommen, wollte zu Karl treten, ließ aber, durch die allgemein herrschende Stille erschreckt, davon ab und wartete.
       Die Oberköchin hatte seit Karls letzten Worten den Bück nicht von ihm gewendet und es deutete auch nichts darauf hin, daß sie die Bemerkung des Oberkellners gehört hatte. Ihre Augen sahen voll auf Karl hin, sie waren groß und blau, aber ein wenig getrübt durch das Alter und die viele Mühe. Wie sie so dastand und den Sessel vor sich schwach schaukelte, hätte man ganz gut erwarten können, sie werde im nächsten Augenblicke sagen: „Nun Karl, die Sache ist, wenn ich es überlege, noch nicht recht klar gestellt und braucht wie Du es richtig gesagt hast noch eine genaue Untersuchung. Und die wollen wir jetzt veranstalten, ob man sonst damit einverstanden ist oder nicht, denn Gerechtigkeit muß sein."
       Statt dessen aber sagte die Oberköchin nach einer klei- nen Pause, die niemand zu unterbrechen gewagt hatte – nur die Uhr schlug in Bestätigung der Worte des Ober- kellners halb sieben und mit ihr, wie jeder wußte, gleich- zeitig alle Uhren im ganzen Hotel, es klang im Ohr und in der Ahnung wie das zweimalige Zucken einer einzi- gen großen Ungeduld: „Nein Karl nein, nein! Das wol- len wir uns nicht einreden. Gerechte Dinge haben auch ein besonderes Aussehn und das hat, ich muß es gestehn, Deine Sache nicht. Ich darf das sagen und muß es auch sagen, denn ich bin es, die mit dem besten Vorurteil für Dich hergekommen ist. Du siehst, auch Terese schweigt." (Aber sie schwieg doch nicht, sie weinte.)
      Die Oberköchin stockte in einem plötzlich sie über- kommenden Entschluß und sagte: „Karl, komm einmal her" und als er zu ihr gekommen war – gleich vereinig- ten sich hinter seinem Rücken der Oberkellner und der Oberportier zu lebhafem Gespräch – umfaßte sie ihn mit der linken Hand, gieng mit ihm und der willenlos folgenden Terese in die Tiefe des Zimmers und dort mit beiden einigemal auf und ab, wobei sie sagte: „Es ist möglich, Karl, und darauf scheinst Du zu vertrauen, sonst würde ich Dich überhaupt nicht verstehn, daß eine Untersuchung Dir in einzelnen Kleinigkeiten recht ge- ben wird. Warum denn nicht? Du hast vielleicht tatsäch- lich den Oberportier gegrüßt. Ich glaube es sogar be- stimmt, ich weiß auch, was ich von dem Oberportier zu halten habe, Du siehst ich rede selbst jetzt noch offen zu Dir. Aber solche kleine Rechtfertigungen helfen Dir gar nichts. Der Oberkellner, dessen Menschenkenntnis ich im Laufe vieler Jahre zu schätzen gelernt habe und wel- cher der verläßlichste Mensch ist, den ich überhaupt kenne, hat Deine Schuld klar ausgesprochen und die scheint mir allerdings unwiderleglich. Vielleicht hast Du bloß unüberlegt gehandelt, vielleicht aber bist Du nicht der, für den ich Dich gehalten habe. Und doch", damit unterbrach sie sich gewissermaßen selbst und sah nur flüchtig nach den beiden Herren zurück, „kann ich es mir noch nicht abgewöhnen, Dich für einen im Grunde anständigen Jungen zu halten."
    „Frau Oberköchin! Frau Oberköchin", mahnte der Oberkellner, der ihren Blick aufgefangen hatte. „Wir sind gleich fertig", sagte die Oberköchin und redete nun schneller auf Karl ein: „Höre Karl, so wie ich die Sache übersehe, bin ich noch froh, daß der Oberkell- ner keine Untersuchung einleiten will, denn wollte er sie einleiten, ich müßte es in Deinem Interesse verhindern. Niemand soll erfahren, wie und womit Du den Mann bewirtet hast, der übrigens nicht einer Deiner früheren Kameraden gewesen sein kann wie Du vorgibst, denn mit denen hast Du ja zum Abschied großen Streit ge- habt, so daß Du nicht jetzt einen von ihnen traktieren wirst. Es kann also nur ein Bekannter sein, mit dem Du Dich leichtsinniger Weise in der Nacht in irgendeiner städtischen Kneipe verbrüdert hast. Wie konntest Du mir, Karl, alle diese Dinge verbergen? Wenn es Dir im Schlafsaal vielleicht unerträglich war und Du zuerst aus diesem unschuldigen Grunde mit Deinem Nachtschwär- men

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